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3.3 Das Bedürfnis nach der Sensation – Maria und das Irrationale

3.3.1 Lourdes bei Kurt Tucholsky

Im essayistischen Pyrenäenbuch (1927) des deutschen Journalisten und Schriftstel-lers jüdischer Herkunft272 Kurt Tucholsky (1890–1935) gibt es eine längere Passage Ein Tag in Lourdes, welche das Phänomen dieser Gnadenstätte ergründen will. Zu-erst erfolgt eine genaue Inventur der Umgebung der Grotte und die Beschreibung der Rituale um die Heilungen. Es wird nicht nur eine neutrale, sondern sogar eine ziemlich positive Einstellung deklariert. Der Ich-Erzähler, ein Besucher in Lourdes, nimmt erst allmählich die Außenperspektive an und gibt seiner Nicht-Beteiligung Ausdruck. Dieses Verfahren dient dem Ziel, den Leser zu überzeugen, dass der Erzäh-ler nicht von vornherein an den Themenkomplex „Lourdes“ mit seinen Vorurteilen herangetreten ist, sondern diese Einstellung erst über eine genaue Untersuchung und über gesammelte Erfahrungen erworben bzw. entwickelt hat. Der Erzähler möchte sich in das Ambiente von Lourdes hineinleben. Schnell wird aber seine wachsende Distanz sichtbar. Es wird die Optik des Einzelnen mit der der Menge kontrastiert.

Die Pilger werden als „Masse“273 bezeichnet. Es erfolgt u.a. in häufi gen Passivkon-struktionen, die es nicht erfordern, das Subjekt zu präzisieren (z.B. „Es wird fo-tografi ert, gesprochen, in Büchern geblättert“274). Sie „brodeln“275, „umlagern“276, werden als „Menschenmauer“277 bezeichnet. Mit Hilfe dieses Verfahrens werden die Pilger zu den „Anderen“, respektive „Fremden“, nicht ohne einen leicht sar-kastischen Unterton, stilisiert. Die lauten Wendungen der Kranken an Gott sieht der Erzähler als „ein[en] Ruf aus tiefster Not, ein[en] Befehl, ein Kommando“278, „Sie wollen ihr Wunder, [...] die Luft ist geladen vor Erwartung“.279 Die Pilger werden nur auf der kollektiven Ebene gesehen, auf welcher über Addition eine Hyperbel entsteht (es werden z.B. auch solche Details wie die Entstellungen der Aussprache beim lauten Aufsagen des Gebets in der Gruppe markiert). Es wird hervorgehoben, wie stark das Verhalten der Pilger durch die Psychologie der Masse gesteuert wird:

„Alle laufen, da ist kein Halten mehr“.280 Der Herdentrieb wird exponiert, der die Masse an die Grenze der Gewalt führt: „Die Pilger würden die geheilte Kranke zu Boden reißen, sie betasten wollen, ihren Segen wünschen, sich ihre Kleider teilen zum Andenken“.281

272 Tucholsky trat dann aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus.

273 Kurt TUCHOLSKY: Lourdes, in: Ders.: Ein Pyrenäenbuch, in: Ders.: Texte 1927, hg. von Gisela ENZMANN --KRAIKER, Ute MAACK, Renke SIEMS, in: Ders.: Gesamtausgabe. Texte und Briefe, hg. von Antje BONITZ, Dirk GRATHOFF, Michael HEPP, Gerhard KRAIKER, Bd. 9, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 71.

274 Ebd., S. 74.

275 Ebd., S. 77.

276 Ebd.

277 Ebd., S. 74.

278 Ebd., S. 71.

279 Ebd., S. 77.

280 Ebd.

281 Ebd.

Nicht weit bewegt sich hier Tucholsky von den Thesen der Psychologie der Massen (1895) von Le Bon: „Dem Menschen einen Glauben schenken, heißt, seine Kraft verzehnfachen“.282 Die enge Verfl echtung des Wunders mit der Menge wird in Tu-cholskys Darstellung mit der Eruption verschiedener gar nicht frommer Emotionen gekoppelt. Angesprochen wird u.a. die Tendenz der Menge zu Verschönerungen: „Die Menge diskutiert die Heilungen, die sich in den Gerüchten minütlich vergrößern, an Zahl, an Schwere, an Kraft des Mirakels“.283 Es tauchen auch Rivalität, Eifersucht und Hochmut auf: „Die Heilige Jungfrau [...] hat sie für würdig befunden, sie und keine andre“.284 Es sind einfach Schwächen jeder Menschenmenge und erklärliche, soziologische Mechanismen. In diesem Text haben sie aber auch zugleich die Funk-tion eine ironische Distanz zu verschaffen und dadurch unmittelbar die Glaubwürdig-keit des Wunders und des Glaubens zu schwächen. Die Beschreibung der Pilger in Lourdes unter Gebrauch der Kategorie „Masse“ muss bei dem Empfänger negative Assotiationen erwecken, die mit den illusionslosen Thesen Le Bons übereinstimmen:

Verschiedene besondere Eigenschaften der Massen, wie Triebhaftigkeit [...], Reizbarkeit [...], Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Übers-chwang der Gefühle [...] und noch andere sind bei Wesen einer niedrigeren Entwick-lungsstufe, wie beim Wilden und beim Kinde, ebenfalls zu beobachten285; Als einen der allgemeinen Charakterzüge bezeichneten wir die übermäßige Beeinfl ußbarkeit und wie-sen nach, wie ansteckend eine Beeinfl ussung in jeder Menschenansammlung ist; woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefühle in einem bestimmten Sinne erklärt286; Die Einseitigkeit und Überschwenglichkeit der Gefühle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewißheit.287

Obwohl die Darstellung Tucholskys nicht so weit zu gehen scheint, wird diese As-soziation implizite auf den Text projiziert. Der Spontaneität des Einzelnen setzt Tu-cholsky die Verstarrung der Menge als eines Ganzen entgegen: „alles ist Traditi-on, alles ist vorausgesehen und eingespielt“.288 Der Urteilskraft des Einzelnen (des Erzählers) wird die fehlende Urteilskraft der Masse entgegengesetzt. Die Gesell-schaftskritik wird noch um die Kritik der Geschäfte erweitert, die aus dem Wunder ihren Gewinn ziehen (was zum häufi gen Begleitmotiv der Texte gehört, die sich mit den Kultstätten beschäftigen). Obwohl die Darstellung Tucholskys scheinbar nüch-tern, neutral erfolgt, fungiert sie schon über die Auswahl der betrachteten Elemente ziemlich kritisch.

Lourdes wird von Tucholsky als eine soziologische Erscheinung ergründet und nur als solche scheint es für ihn von Interesse zu sein. Mutter Gottes ist hier nur ein Teil-element eines größeren gesellschaftlichen Mechanismus. Die Begegnung der Pilger

282 Gustave Le BON: Psychologie der Massen, übers. von Rudolf Eisler, Stuttgart 1911, S. 83.

283 TUCHOLSKY: Lourdes, a.a.O., S. 78.

284 Ebd.

285 Le BON: Psychologie der Massen, a.a.O., S. 18.

286 Ebd., S. 21.

287 Ebd., S. 30.

288 TUCHOLSKY: Lourdes, a.a.O., S. 75.

mit der Darstellung der Mutter Gottes ist schon wieder eher massenpsychologisch als individuell verankert: „Vor ihr bekreuzigen sich alle, dann küssen sie den Stein, auf dem sie steht, der Stein ist glatt und speckig von den vielen Händen, die ihn gestreichelt haben“.289 Maria wird auf einen rituellen Glücksbringer reduziert. An dieser Stelle entsteht ein Konfl ikt mit jeder theologisch vertieften Auffassung: „Daß Wallfahrtsorte oder Gnadenbilder nicht im ursächlichen Sinne als heilsmittlerisch verstanden werden dürfen, ist der Tenor der theologischen Kritik von Anfang an“.290 Das einzig hervorgehobene Element ist es hier, dass sie von vielen als solch ein Glücksbringer empfunden wird. Diese Quantität scheint hier zum eigentlichen Ar-gument erhoben zu werden.

Nicht aber eine Marienerscheinung oder ein Wunder als solches soll hier herabge-setzt werden. Die direkte Anklage des Katholizismus erfolgt im weiteren Verlauf des Textes. Es wird hinterfragt, wie sich der katholische Glaube der Franzosen und der Deutschen zu ihrer Beteiligung am Krieg verhält:

Es ist mir nie klar gewesen, wie ein frommer Katholik dem andern ein Bajonett in den Leib jagen kann – fühlt er nicht, daß es die eklatanteste Religionsverletzung ist, die es gibt? [...] Denn da katholische Deutsche vor dem Kriege in Lourdes gewesen sind, [...]

so ist es theoretisch nicht ausgeschlossen und praktisch mehr als wahrscheinlich, daß Männer, die gemeinsam vor der Kirche das Credo gesungen haben, sich späterhin bis zur Unkenntlichkeit zerfetzten, als Soldaten.291

Je üppiger diese äußere Frömmigkeit ist, desto größer die Diskrepanz, wenn sie nicht in Tat umgesetzt wird. Nicht die Glaubwürdigkeit eines Wunders ist hier von Be-deutung, sondern die ethischen Konsequenzen eines Glaubens. Hier kommen wir zum wichtigsten Punkt der Auseinandersetzung Tucholskys mit dem Wunder, die an dieser Stelle noch komplizierter wird:

Und ich will nun den Frommen zum Schluß alles einräumen: daß es wundertätige Heilun-gen gibt, daß diese HeilunHeilun-gen von einem Wesen ausgehen, das Jungfrau Maria heißt ... Was beweist das −? Wunder sind eine Reklame. Wunder beweisen nichts für die Richtigkeit eines ethischen Systems. [meine Hervorhebung, A.S.] Und wenn einer aus Feuerland daherkäme und mir das Abbild seines Gottes zeigte und sagte: ‚Sieh! Er tut Wunder! [...]‘, so prüfte ich das Gebäude und die Untermauerung seines Glaubens und sei-ner Metaphysik, seisei-ner Lehren und seisei-ner Sittengesetze. Und fände ich dann etwa, daß es eine Religion ist, die von ihrem Schöpfer gute Lehren auf den Weg bekommen hat, diesen Schöpfer aber verraten hat um irdischer Güter willen; daß sie die Reichen begünstigt und die Armen mit leeren Tröstungen im Elend geduckt hält; fände ich, daß sie die Tiere nicht miteinbezieht in den Kreis des Lebens, und daß sie klüger ist als fromm, gerissener als weise, politischer als wahrhaftig; [...] daß sie gottlose Fahnen in ihren Tempeln aufhängt und segnet, die da töten, und verfl ucht, die den Staatsmord verhindern wollen – fände ich das alles: ich schickte den Mann aus Feuerland zurück und pfi ffe auf seine Wunder.292

289 Ebd.

290 COURTH: Wallfahrten zu Maria, a.a.O., S. 20.

291 TUCHOLSKY: Lourdes, a.a.O., S. 110

292 Ebd., S. 111–112.

Die Frage wird also verschoben, es geht gar nicht darum, das Wunder zu beweisen oder auszuschließen. Seine Annahme würde nichts ändern und braucht daher gar nicht bekämpft zu werden. Tucholskys Anklage des Katholizismus baut teilweise da-rauf, dass er das Wunder zu missbrauchen versucht habe. Die Möglichkeit des Ein-griffs des Überrationalen ins Leben wird von ihm nicht direkt bestritten, sie scheint sich aber über soziologische Mechanismen erklären zu lassen.

Die Darstellung soll von einer massenpsychologischen Erscheinung berichten. Ma-ria wird hier instrumental zu einer Funktionsträgerin reduziert, ihre Funktion wird aber nicht bestritten: „Lourdes [bedeutet] Hunderttausenden eine Tröstung und eine Herzstärkung“.293 Das Wunderbare an der Erscheinung kommt hier zu kurz, ihm wird nicht besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt, die soziologische Komponen-te sKomponen-teht hier im Vordergrund. Die UnKomponen-tersuchung des Wunders wird hier als etwas Sinnloses abgestempelt. „Marienerscheinung“ und „-wunder“ sind hier Größen, die sich nur im kollektiven Erlebnis realisieren.

3.3.2 Das literarische Bild der Marienerscheinung im Roman

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