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Die Zukunft, 22. Dezember, Bd. 33.

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Academic year: 2022

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Berlin, den 22. Dekember 1900.

fd »n- F f

Sternberg.

Im

GroßenSchwurgerichtssaalwird es dunkel. DreiUhr,imDezem- ber;dasliebeHimmelslichtwillschonscheidenundschicktdurchge- malteScheibendenletztenScheinindensRaum,woseitfastsechsStunden ungefährhundert Menschenathmen. VonZeitzuZeit hörtman dasKlin- gelnderStraßenbahn;undeinmal,als nebenaneinFenster geöffnetwird, dringt deutlichdasGebrumm einesWaldteufelsherein,den wohleinvonder Weihnachtwanderung heimkehrendesKinddurchdieDämmerluftschwingt.

ImSaal istnochkeineMüdigkeitsichtbar.Diefünf Richter lauschenauf- merksamdenZeugenaussagen. Der Staatsanwalt, dernebenihnenauf gleicherHöhesitzt,blickt,alsinteresfiredie ganzeSache ihn nicht, auf seine gepflegteHandoderspazirt,umsichBewegungzumachen,hinterdenRichter- stiihlen aufundab,zeigtabermanchmal durcheinspöttischesLächeln,eine leiseundlässighingeworfeneBemerkung, daßihmkein Wortentgeht.Auf denZeugenbänkenKupplerinnen, Prostituirte, Detektives, Agenten,ein paarunbescholteneLeute ausdemKleinbiirgerbereich Rechts,nebenden medizinischenSachverständigen,derKriminalkommissarvonTresckow,der eleganteste,hübschesteHerrimSaal. An denlangen Tisch, hinterdemsonst dieGeschworenensitzenund derjetztdenJournalisten eingeräumtist, lehnt sichderSchutzmann Stierstädter.Ersieht gelblicherausals imOktober, dieAugen find roth umringtunddasheftigeMienenspiel,diehalblauten Rufe,mit denenerdieAussagen wichtigerZeugen sichselbst erläutert,be- stätigtoderbrstreitet, verrathendasOpfereinerdurchdieErregungender letztenWochengesteigertenBerufsneurose.Wennervorgerufenwird, spricht ernochimmerhastig,aberbestimmt,wie einseinerSache sichererMann,

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denjederWiderspruchwüthendmacht;dieRedeknattertwieKleingewehr- feuer.EinRobespierrederPolizei, l’incorruptible,denkeineVerheißung gleißenderSchätzevom PfadederPflicht wegzulockenvermochte.Erist alskleinerBeamter natürlichAntisemitundpflegtevondemAngeklagten, gegen denermitunermüdlichemEiferdasbelastendeMaterial zusammen- gebrachthat,zuseinenKameraden zusagen: »Der Jude muß’rin!«Jetzt könnteertriumphiren,denndieStimmungderRichter istdemAngeklagten ungünstig;aberauchderunbestechlicheKriminalschutzmann,demvergebens mit derHoffnungaufeinVermögengewinkt ward, ist schuldiggeworden:

erhatmitzweiFrauen,gegen dieerin einerKuppeleisachevorzugehenhatte, geschlechtlichverkehrtunddiese Enthüllung,die imEheheimundamAlex- anderplatzzubösenFolgen führenmuß,mindertdieFreudeandemErfolg desamtlichenWirkens Mitder-HandamOhr lauschter,umjakeineSilbe zu verlieren. DennhinterdemZeugentisch steht FrauGreteMiller,ge- boreneFischer,die mitäußersterSpannungerwartete Hauptzeugin; sie ist ausAmerika gekommen,umdenAngeklagtenzuentlasten.Einedicke,blonde Dame,mitfrühwelkgewordenem,nicht unangenehmem Gesicht,miteiner Stimme,derenmetallischer Glanzunter derFettschichtrostig geworden ist.

Zögerndantwortet sie aufdieihrvomVorsitzendengestelltenFragen;über diewesentlichstenPunkte verweigert siedieAussage.Gegendiestrafrecht- lichen FolgendesKuppelgewerbes, dessensie beschuldigtwird, ist sieeinst- weilengeschützt,denn derGerichtshofhatihr sicheresGeleitgewährt;aber sie ist auchderErpressung verdächtig,kannjedenAugenblickderBegünsti- gungoder desMeineides verdächtigwerden« Sielügtso nett,miteinemso artigenPhlegma, daßman ihrgernzuhört.NurderVorsitzendewirdun- geduldig: »SindSieausAmerikahergekommen,um unssolcheMärchen zuerzählen?« EinleisesLächelngleitetüber dieFettpolsterundfragt,ganz naiverstaunt: Ja, glaubtenSieetwa, ichwürde dieWahrheit sagen? No, meinHerr,Daskönnen Sieernsthaftvonmirnichtverlangen!Siewarein paar Monatedrüben undsagt,umihreEntfremdungvonderHeimathzu zeigen,mitVorliebeNo stattNein.Nachundnach gestaltetsichausdenkurzen Sätzen,denoffenbarenLügenundAntwortweigerungen,dem-Hörerdennochein Bild.FräuleinGreteFischerwarMasseuseinBerlin0.,einerichtige,mitDi- plom.EinesTageskamHerrAugustSternberg,derim ArmRheumatismus hatte,undließsichmassiren.DieMasseusewar damals nochschlankund hübsch,derHerrkamwieder,—und dasschwacheGretchenthatfürAugust den Starken so viel, daß ihrzuthunbaldnichts mehr übrigblieb.Oder

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Sternberg. 481 dochnochEtwas: siekonntefür Abwechselung,für frischereZärtlichkeitsor- gen; dennderFreundliebte dieWeiber imPluralund zog die ganzjungen, ganz magerendenin desFleischesFüllealternden vor. Und daersteinreich war,wolltedieFischerdasgute Geschäft,ob esauch ihrer Eitelkeitschmerz- lich wurde, nicht fahrenlassen.Sie annoncirte imLokalanzeiger,einreicher MalersucheModelleim Altervon vierzehnbissechzehnJahrenundlud denMillionär,wenn ereineWeileunsichtbar blieb,indrängendenBrieer zurBesichtigungneuer Waare ein.Wasmit denMädchengeschah?Frau Miller lächeltverbindlich. »Nun: siewurden ebengezeichnet;weiterweiß ichnichts.«UndalsderVorsitzendedringender fragtundwissenwill,ob nichtmanchmalEine weinendausdemZimmerdesMalers gekommensei, unterdrücktsiemühsamdieLachlustundruft,lauteralssonst: »O No,die MädchenhabenmirjadasHaus eingelausen,ummitdemMalerzusam- menzukommen!«Zwei Welten,dieeinanderniemals verstehenkönnen.Im HauptpunktbleibtdieZeugin unerschütterlichfest:mitderdamals noch nicht dreizehnjährigenFrieda Woyda,die bei derFischerwohnte, ist nichts passirt, nichtdasGeringste. Einmal,alsdieMasseusein arger Geldklemme war,ließ siedem KindedasSonntagskleid anziehenundesinsZimmer bringen,aber derFreundwiesFrieda gleichwiederhinaus. Ueberhaupthielt HerrSternberg streng darauf, daßdieihm zugesührtenMädchendiegesetz- licheSchutzgrenze überschrittenhatten,undschicktehäufigkleineDirnchen weg, dienochnichtvierzehnJahrealtwaren. DieAngabewirdvonzwei Prostituirten bestätigt.SieistfürdenAngeklagtensehrwesentlich;undzu ihm schweifendeshalbdieBlickehinüber.Neben einemhäßlichenundeinem hübschenMädchen,die derBegünstigungundderBeihilfe angeklagtsind, sitzter. DerPlatzin derMitteistfrei.DasaßsonstHerrLuppa,derOr- ganisatorderVestechungen,dersichvorderdrohendenHaftins londoner Winterklima geflüchtethat. DerMann mitdenachtzehnMillionen sieht elendaus; blond,dünnesHaar,Spitzbart,derfahleTeintderlangeGe- fangenen.SeitelfMonaten isterimGefängniß,aberseineNervenkrast ist noch nicht gebrochen.Er kannnoch lachen,kannaufMinuten vergessen, wasihn bedroht,welcheswidrigeSchauspielerdemAugebietet. Vonseinem Fragerecht machterdenreichlichstenGebrauchundseineBertheidigerbe- mühensichoft vergebens,ihnzumSchweigenzubringen.DerVerwöhnte kannsichnichtin die Rollefinden,dievordeutschenGerichtendemAnge- klagten, auchdemgebildeten,auchdemkeinerehrenrührigenHandlungbe- schuldigten,zugewiesenist.Ermöchterechthöflichseinundstößtdochstets

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wiederan. ErärgertdieZeuginnen,dieihn,in derHoffnungauf späteren Lohn, möglichstentlasten wollen,undreizt sie durch häßlicheErinnerungen undheftigeVorwürfezuihm schädlichenAussagen.Manchmalnur,wenn derVorsitzendeihn anfährt,knickterzusammen. Jm EiferdesVerhörs lehnter, der mitderFischer recht unbefangenredenmöchte,sichmitver- schränktenArmen über das GeländervorderAnklagebank. »LehnenSie- sichdanicht so auf!Dassieht so legeraus!Daspaßtsichnicht! StehenSie gerade!«DerAngeklagtemöchtesichentschuldigen,wirdmitstrengerGeberde aber zurRuhe verwiesen;erschnapptnachLust, drehtnervösden Kon hin undherundsetztsichendlichauf seinen Stuhl.Des Denkens Faden ist zerrissen,dieJntimität,die derKlugezwischensichundderZeugin herstellen wollte, ist unmöglichgeworden.DabeiistderVorsitzendeeingutmüthiger Mann,dernichtnurgerecht,derauch human sein will;ergehört nichtzu Denen,die mit demUrtheilübereineStrafsache fertig sind,weilerstensdie KöniglicheStaatsanwaltschaft nicht ohneGrund dieAnklage erhoben hat undweilzweitensderBeschuldigteleugnet.AbereristvonderSchulddesAn- geklagtenfelsenfestüberzeugt,vondessenwüstem Lüstlingstreibenangeekelt, durchdieEnthüllungimmerneuer Kollusion-undBestechungversuchein begreiflicheWuthgebrachtunddurchdiesiebenwöchigeDauer derVerhand- lungnervösgeworden.Und wie er,so sindim Saal dieMeisten gestimmt.

NurderStaatsanwalt bleibtkühlundgelassen;undvondenmedizinischen Sachverständigendenkenwohl mindestens zweiüber denFallSternbergwie.

LacassagneiiberdenbehauptetenExhibitionismuseinesKapuziners:Hatder Angeklagtegethan,wasihm vorgeworfenwird,dannisterkrank, psychisch degenerirt,undbedarf mehrdesArztesalsdesGefängnißwärters.Die Anderenaber...KaumEiner,der dem Millionärnichtdas strengsteStras- maßgönnt.AusjedemigeflüstertenWortsprichteinpersönlicherHaß.Und als gegen Vier dasLichtangestecktwird, siehtmanimhellenSaal wüthende AugenundvomZorn gerötheteWangen.Esist,als könneKeiner dieStunde erwarten,woendlicheinMassenmörderunschädlichgemachtwerdenwird.

Wieentstand dieserzornigeHaß?

DerProzeßSternberg ist schoneinmalvordemberlinerLandgericht verhandeltworden.Manhörtenichtvieldavon,denndieOeffentlichkeitwar ausgeschlossenundkeinBerichterstatter zugelassen.Manwußteauch nicht vielvonAugust Sternberg. Früher,alserBesitzerderBerliner Neusten Nachrichtenwar, einethüringischeBanknachallenRegelnderWucherkunst ruinirte unddurchdieFrechheiteinesPetroleumschwindelssichvonder

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Sternberg. 483 MengederJobber abhob,warfeinNameoft genanntworden. Daswar nunlangeher.Ein GründerundGroßspekulant,mitdemfeinereFirmen schon längstkeineGeschäftemehr machten,demVrauereien,Bergwerke, Riesen- terrains gehörenund derangeklagtist, »mit·Personenunter vierzehnJahren unzüchtigeHandlungenvorgenommen zuhaben.«Wermochtesichdarum kümmern? SeitPetroniusdenProtzenTrimalchiounddessencena geschildert hat,istdieGestaltdesreichenPrassersundWüstlingsinunzähligenRomanen undMelodramen denTugendsamenalsHerzenstrostvorgeführtworden.Ge- schichteundAlltagswirklichkeitzeigtendasSchreckbildin denverschiedensten FormenundFarben,von Sachsens starkemAugustund Preußensdickem Wil- helmbis zumBaccaratprinzen,derHoheitGamelleund demserbischenMilan.

HerrSternbergwurdehinterverschlossenenThürenzumehrjährigerGe- fängnißstrafeverurtheiltunddieTugend setztesichbefriedigtzuTischAber dasReichsgerichthob,weil derVertheidigung nichtderihr gebührende Raum gelassensei,dasUrtheilderersten Instanz aufundwies dieSache andasLandgerichtBerlinl zurück.Allmählichfickertenun vonderBeweis- aufnahme, aufderdas ersteUrtheil beruhte, Einiges durch.Hauptbelastung- zeuginwar diedreizehnjährigeFrieda Woyda gewesen. Jhr hattederGe- richtshofgeglaubt, trotzdemderAngeklagteentschiedenwidersprachundtrotz- demHerrDr.AlbertMoll,derErforscherallerSeitenpfade derljbido sexualis,alsSachverständigerdieDarstellungdesKindes für unglaub- würdig,für »in sichunmöglich«erklärte.Auchsollteein gegenSternberg aufgehetzterKriminalfchutzmannin derVoruntersuchungeinebedenkliche Rollegespielthaben. Schutzmännersindstets unbeliebt,Proletarierkinder, die gegen Millionäre mitderBefchuldigungeinesVerbrechenswider die Sitt- lichkeitaustreten, find stets verdächtig.Manwar geneigt,aneinenFehl- fpruch,einenJrrthumderRichterzuglauben.SowardieStimmung noch beimBeginnderneuen Verhandlung. Auchdiesmal wurdedieOeffent- lichkeitausgeschlossen. WährendaberbeiMajefiätbeleidigungprozessenso- gar bekanntenRechtsanwältenderEintritt verweigert wird,wurdehierjeder anständigGekleidetezugelassenunddietäglicheBerichterstattungerlaubt.

Diese Konzefsionhatte zweiübleFolgen.DieZeugenfchaarrelrutirtefich meistausdemLumpenproletariat,aus denKreisenderKupplerinnenund Prostituirten. Eswar nicht nützlich,daß dieseLeute in derZeitung lasen, wasgesternDer oder DievordemRichterausgesagt hatte; siekonntenihre eigenenAussagendenfrüherenanpassen, manchmal auch ihremGroll da- rüberLuft machen;undeineProstituirte niedersten Ranges schreckt,um

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ihrenNamennoch einmal,als den derHeldineinesbesonders sensationellen Zwischenfalles,in allengroßenBlättern zulesen, nicht leichtvoreinerLüge zurück.Undzweitens wurden,weil dieBerichterstatterdievorgekommenen Unsittlichkeitennicht schilderndurften,dieSexualthatendesAngellagtenin denfruchtbarenBereichderLegendeentrückt. DieZugelassenenhörtenGe- schichten,die einem alten GorilladasBlut insGesichttreibenkönnten,und dasie sichschämten,dieseWidrigkeitenweiterzutragen, begnügtensiesich selbstim KreisderVertrauten mitAndeutungen;undwoGräßlichesan- gedeutetwird, geht es,wieimmer auf Famas Wegen:crescit eundo.

Baldhießes, in Moabit seien Dinge enthülltworden,-nebendenenAlles, was Sadein Justine undRops auf seinen frechstenBlätterndargestellt haben,wierosenfarbige MärchenkostfürdieunreifeJugend erscheine.

Eswar nicht soschlimm. AbgehärteteAerzteundRichter staunten, wenn derThatbestand ihnen nüchternundohneeffektvollenAufputzberichtet wurde. Dawarja nichts Neues, nichts,wassienicht selbstin derPraxis häufiggenugkennengelernt hatten;undvonParentund Krafft-Ebing,von LombrosoundEulenburg, TarnowskijundMollhatten sieganzandere BeispieleverirrterSexualempfindungerzählengehört.EinMann,deran Satyriasis,ansexuellerExaltationleidet und eineArtgeschlechtlicherSätti- gungliebt,dieseit Jahrtausenden bekannt,in Ländernältesterundneuster Kultur verbreitet istundfürdieeslängsttechnischeAusdrückegiebt.Erist sehr reichundkönnte,nach berüchtigtemMuster, unschuldigeMädchenzur Befriedigung seinerLüsteabrichten lassen.Vielleichtisterzuvorsichtig,viel- leichtzugeizig;jedenfallsbegnügtersichmit demschlechtestenMaterial,dem Kehricht,deraufderStraßederGroßstadtliegt.ErgehtzueinerKupplerin undläßtsichausderunterstenSchichtderProstitution junge Frauenzimmer holen,andenennichts,aberauchgarnichts mehrzu verderbenistunddie sichdesleichtenVerdienstesbei dem»MalerausFrankfurt« freuen.Da sitzensievoruns, tuschelnundkichernundsindsehr stolz,in einem zur Staatsaktion erhöhtenProzeßmitwirken zudürfen.Von derEinen, dervom Wollrock dieKantenfetzenüberdieschmutzigen,schiefgetretenen Stiefel hängen, ist festgestellt,daß sie schonalszwölsjährigesBlumen- mädchenHerren herangewinkt,Herrenamhellen TagindieWohnungbe- gleitethatzvonderAnderen,die unter einemknallrothen Tüllhut her- vorgrinst, daßsievorihrem fünfzehntenGeburtstagmitschwererSyphi- lisin dieCharitåkam.DieNachbarinnenzurRechtenund zur Linkensind ejusdemfarinae. UndansolchenTafeln hatderMannmit denachtzehn

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Sternbetg 485 Millionen seinen Hunger gestillt. MußmandiesePerversiondesEmpfin- densnicht krankhaftnennen? Jn jeder Großstadtkannheuteein Millionär ohnefühlbareGeldopserdaszarteste,infeinsteSpitzengehüllteFrauenfleisch laufen.HerrSternberg liefzwischenzweiGeschäften,vondenenjedesHun- derttausende abwarf,zu GreteFischerundergötztesichanGeschöpfen,die seinCommis nicht ungerührthätte...Solche Prozessesolltenimmer miteiner sachverständigenBeobachtungundUntersuchungbeginnen.Dashat schon Krafft-Ebingempfohlen,alserschrieb: »AufkeinemGebiete desStraf- rechtes istdasgemeinsameArbeitenvonRichterundmedizinischenExperten so nöthigwie bei densexuellenDelikten;nur dieanthropologisch-klinische Forschungkannhier LichtundKlarheitverbreiten.«

NeuroseoderPsychose:dasgeschlechtlicheHandelnSternbergs ist so ekelhaftwie dasgeschäftliche.Strafbaraber würdeeserst,wenneinunzüchtiger VerkehrmitPersonenunter vierzehnJahren nachgewiesenwäre. DasGe- setz,dasalleFormendeseinfachenstuprumstraflos läßt,schütztdiesePer- sonen,weilsienochnichtimBesitzdergeschlechtlicheuVerfügungsreiheitsiud.

DerMann da drübensollinzwei FällendieWarnungdes§1763nicht beachtet haben.Einmal isterbelogenworden: dasfrühereBlumenmädchen hat sichfürfast fünfzehnjährigausgegebenunddieeinführendeFreundin, dashagere Aeffchenimrothen Hut, hatdieAngabe nachdrücklichbestätigt.

NunistdervielersahreneGründer keinParsifal, dessenreineThorheit gläubig jedemBlumenmädchenvertraut. AbererhatteModelleimAltervonvierzehn bissechzehnJahren bestelltundvorihm standeine routinirte Dirne,die—- auchderUntersuchungrichterbezeugtes—- sür ihrAlterungewöhnlichent- wickeltwar. DerGesetzgeberwollte dieunberührteUnschuldschützenundFranz vonLisztsagtin seinemLehrbuch:»Der Thätermußdas Alter derMißbrauch- tengekannt haben; doch genügt hier,wieüberall, unbestimmter Vorsatz«.

Deshalbwandten sichvorhindieBlicke derAnklagebankzu, alsausgesagt undbeschworenwurde, Sternberg habe Mädchen,dieihm noch nichtvier- zehnjährigschienen,mehralseinmalweggeschickt.ObertrotzdemderNorm desStrafparagraphen verfallen ist, hatder Laienichtzuentscheiden;ein Rechtsgutaber wurde durchdenSexualverkehrmit derseit Jahren Prosti- tuirten sichernicht vernichtet. AuchderzweiteFall läge,wenn erbewiesen würde, wenigstens moralisch nicht allzu schlimm. Frieda Woyda hatim vorigenVerfahren behauptet,derHausfreundderFischerhabe siedreimal gröblichzuperverserUnzuchtmißbraucht;jetzt hat sie ihre Aussagewider- rnfenundist,vonMahnungundWarnung Unbeirrt,siebenWochen lang

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mitzäherBeharrlichkeitbeiihremWiderrusgeblieben.DerVorsitzendeglaubt ihr nicht;erfragtimmerwieder,obeswohldenkbarsei, daßeinKind eine so detaillirteDarftellung abscheulicherVorgängeerfindenkönne.Maudsley, Lombrosoundder MärkerJdelerwürdenihnvielleichtzuandererMeinung bekehren.Jeder NervenarztkenntFälle vorzeitigerRegungendesGeschlechts- lebens undderGeschlechtsphantasie.UnddiesesKind, das, eheeszethahre altwurde, ProbenderäußerstenSchamlosigkeitundPerversion gabund später,nachdenärgftenVerirrungen,in das Winkelbordell derFischerkam, diesesoffenbarneuro-pshchopathischbelasteteKind mit denschlaferZügen einer alterndenZwergin soll nicht fähigsein,eineGeschichtezuerfinden, durchderen Verbreitungeszu einem des Mitleids würdigenOpfermänn- licher Verworfenheitwerden kann? Frieda Wohdakannselbstaus dieser Verhandlung,dersieaufmerksam,mithalbnurgesenktenLidern, lauscht, kaumnochvNeueslernen. HatSternbergsichgegensie unziichtigvergangen, dannmußerbestraftwerden. Aberauch dieserzweiteAnklagepunktkann, datäglichvielschwerereSexualdelikteunbeachtetbleiben,denHaßnichter- klären,dersichmitwachsenderWuth ringsumgegen denAngeklagtenregt.

Wieentstand dieserHaß?

Nochift, währenddieseZeilengeschriebenwerden,dieHauptverhand- lung nichtgeschlossen,dasUrtheil nichtgefällt,eineBetrachtungallerErgeb- nissedesProzessesnicht möglich;underst solcheBetrachtungkönnte der Fragedie Antwort finden.WenndieSensation verbrauchtundvoneiner anderenabgelöftist,wirdmanauchdiesmaldieFäulnißfleckeunterBinden demprüfendenBlick zuverbergensuchen,werdenwahrscheinlichsogardie KriminologenTardieus Mahnung vergessen:Aucune misårephysique

oumorale,aucune plaies, quelquecorrompue qu’elle Sojt,ne dojt eifrayereeluiquiS’est vouåä- la science de l’homme. Unddoch wirdeshoheZeit, daßderMenschdenMenschenbesseralsbisherkennen lerne. SolangederNächstederFernfte ift,einWesenausfremdem Stoff, mitunerforschtemEmpfindenundTrieb,wirdmenschlichesRichten,ver- ständigesStrafen so selten seinwie einesReichenEinzuginsGottesreich SchlußderSitzung.DerMillionärwird insGefängnißgeführt.

»DemKerlsolltemans ordentlich eintränken!«

Draußen,vordemKriminalpalast,dernun lichtloszumDezember- himmel ausragt,werdenChristbäumeverkauftundzerlumpte, frierendeKin- der bieten den Vorüberwandelndenläche«lndeWeihnachtengelausPuppean.

F

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AugusteRodin. s487

AugusteLRodin

Lobusto survivra å la oitå.

ThåophüeGautier.

Kassaöli

nannte neulichimFigarodieMalerei schlechtwegdie Kunst des neunzehntenJahrhundertsUndAndere,dienicht,wieer,Maler waren, haben sichin demselbenSinn ausgesprochen.DerSatz istunbe- streitbar,wenn man ihn aufdiebildendenKünstebeschränktundwenn man ihnnichtmitGewaltmißverstehenwill. DennohneZweifelwardieMalerei inhohemGradauchdie Kunst desfünfzehnten,dessechzehnten,dessieben- zehntenJahrhunderts-. DochderSatzwilleigentlichsagen,dieMalereiseidie einzigeKunstdesneunzehntenJahrhunderts;SkulpturundArchitekturkämen nebenihrkauminBetracht. Undjedenfalls haben diesebeidenKünstenicht annähernd sobedeutende undeigenthümlicheLeistungenaufzuweisenwie die Malerei. KeinWunder,daß sie nicht mehr,wie infrüherenEpochen,die Malerei auf ihremGebietbeeinflussenkonnten.

Dasgeschahmanchmal nämlich.Die Malerei desfünfzehntenJahr- hundertswar ganz.von architektonischenGesetzenbeherrschtkzdie ganze Art ihrer Kompositionwar architektonisch.JmsechzehntenJahrhundertaberge- selltesichzumarchitektonischenAufbau nochdieLiniengebungnndFormen- betonungderantikenStatue· Der EinflußderSkulptur aufdie Malerei wurdenoch größer,wurdezuletzt geradezu verhängnißvollfürdieschwester- liche Kunst. Daswar anderWendedesvorigenJahrhunderts. Dagegen bestanddieEntwickelungderMalerei desneunzehntenJahrhundertsin einer immer radikalerenBefreiungvonunmalerischenElementen und Einflüssen, von architektonischen,plastischenundbesondersauch literarischen.Ein immer klareresBesinnenauf ihre eigenenGesetze,ihre eigenenKräfte,Mittelund Aufgaben:Das war dieGeschichtederMalerei von GrosbisaufMonet undRaffaelli,von CarstensbisanfLeibl undSlevogt.

Ersteinmal war dieMalerei mitsoreinmalerifchemCharakter auf- getreten:imsiebenzehntenJahrhundert;undnicht umsonst geltendiegroßen Meister jener Zeit,über dieman in denTagendesEornelius dieAchselgezuckt hatte, geltendieBelazquezundRembrandt unsheutealsdiegrößtenMaler allerZeiten.Hatte früherdieSkulpturineinemusurpatorischenBerhältniß zur Malerei gestanden,so sehenwirinunseremJahrhundertdenumgekehrten Sachverhalt.Daszeigt sichzunächstvielleichtschonindemVerlangen nach farbiger Plastik,inderwiederholt aus-getretenenFrage,obman Statuen bemalensolle. JndenTagenderGenelliundKarstens hatteman umge- kehrt fogarden GemäldendieFarbeam Liebsten versagt.Aberman kann am Endesagen, daßdasVerlangen nach farbigenStatuen mitdem Male-

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rischen innerlich nichtszuthun hat. InderThatwird,wenn nichtfarbiger, so doch getönterMarmor besonders lebhaftvon Adolf Hildebrand verlangt, also geradevon demdeutschenKünstler,dem»auchseine ausgesprochensten Gegner nicht nachsagenwerden,daßermitseiner statuarischen Kunstmale- rische Tendenzenverfolgt.WennirgendeinBildhauer heute noch strengbei derStange bleibt, so istesHildebrand. Auch KlingersbekannteBestre- bungen gehen eigentlichnicht auf malerischeWirkungaus. Eineandere Errungenschaftmacht sichhier geltend,eineForderung,diegeradeunterdem EinflußreinmalerischenBemühensinVergessenheitgerathenwar, dieForderung: daßdasKunstwerkeinSchmucksein soll, daßesnichtnur durchden Aus- druck,sondern schondurchsein Material, durchdieBehandlungseinesMaterials schönsein soll. Auch Klinger, obwohlervon derMalerei herkommt,ge- horchtinseinenMarmorwerkenplastischenGesetzen. Klinger steht überhaupt, wie mirscheint,unterdemEinflußHildebrands.SeinepersönlicheBegabung kamsolcherEntwickelungentgegen. SchonimMalerKlinger verrieth sie sich.

Man denkean sein ,,UrtheildesParis.« UnterdemEinfluß malerischen Empsindens steht dagegendasSchaffendesmünchenerBildhauersMaison.

Undmitihmwären gewisseandere deutscheundnordischeBildhaueranzu- führen,deren Namen inKunstzeitschriftenvielgenannt werden, derenBe- deutungaberzweifelhaftist. Jch möchtehiervon einemFranzosenreden.

Mit AugusteRodin nenne ich unstreitigeinen derGrößteninder heutigen Kunst.Das beweisen schondieheftigen Anfeindungen,dieerzu erleidenhatte. Unddannhatman ihn oftgenugeinenMichel Angeloge- nannt. DieserTitelnunwarnichtgeistreichgewählt.MichelAngeloist vom Architekteninihm abgesehen soausschließlichBildhauer, daßeresauch ist, wenn erdenPinsel stattdesMeißels führt.Daszeigt besonders deutlichsein einzigesStaffeleibild,dieMadonna in denUsfizien. Jhn beschäftigtnur die plaftischeForm;undsie stellterlieberinderRuhealsinderBewegung dar. Man muß sichbeinahe schämen,solcheuralte Wahrheitenzu wieder- holen. Dennoch...Rodins künstlerischesWesenwirddamitauseinmal klar. Seine Kunstist eine andere,seineKunstwilletwas Anderes. Und was siewill? Bewegungvor Allem. AeußereBewegungund noch mehr innereBewegung. Nichtdie Form,sonderndieBewegung ist ihrdas Wichtigere,dasPrimäre·DieFormmagman aus derBewegunggarnur

errathen.DieForm wirdinandern Fällennur gegeben,umeineninneren Charakter,eine innereSeele darzustellen.

Jch weichenichtvom Themaab,wenn ich hiereinenAugenblickvon Donatello rede. DieserBildhauer wetteifert,imGegensatzezuMichel Angelo, mitdenMalern denendesQuattrocento inderDarstellungdes Seelischen,desGeistigen.Erwarauch fürmichimmereinhalberGothiker.

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wird nicht der Mensch, sondern gewissermaßen der Tod selbst vor seine eigene Vernichtung gestellt. Ein gelehrter Professor, Theologe,glaubt, den unum- stößlichen Beweis für

Auch die Berliner Packetsahrtgesellschaft, die ihre Pflichten immer lässiger erfüllt,leidet, wie esfcheint, unterTodesahnungen. Siedementirt zwar dieNachricht, daß sie am ersten

auf dieseWeise läßt sichfür Staat und Bauernstand ein Gleichgewichtszu- stand herstellen. Den Rittergütern aber ist, wenn sieerhalten bleiben sollen, schlechterdingsnicht anders

UnsereAnsichten sind eben alle naturgemäß verschieden, genau so wie keine Persönlichkeit der anderen gleichist. Jst es nun nicht eine Thorheit, zu sagen: dieser Baum ist falsch

Wenn ein Neuerer auf die GrundgesetzemenschlichenKunstschaffens zurückgeht, so muß er keinen Vorwurf öfter hören als den, er verletze diese Gesetze in pietätloserWeise. So hat

hat! Wir sind mitder unvorsichtigenEinfalt eines Kindes, dasins Innere eines Dampskcsselskriecht, in die Sache hineingkklettert und haben uns noch der behaglichen Wärme des

Reden über die Zollfrage Gesagte geblieben ist. Eine Prinzipienerörterung von unerhörter Leidenschaftlichkeit war uns verheißenworden; die enttäuschende Wirk-

swahr in Bezug auf die Wiedergabe der Atmosphäre um Raffael und Rem- brandt, doch typisch für Das sind, was der mittlere Franzose der Periode svon Vernet und Gårdme in Bezug