DIE NATURWISSENSCHAFTEN
17. Jah rgang 14. Juni 1929 H eft 24
Johann es von K ries. 1853— 1928.
V o n M . v o n Fr e y, W ü rzb u rg . In dem vo n L . R . Gr o t e herausgegeben en
Sam m elw erke „ D ie M edizin d er G eg en w a rt in S e lb std a rstellu n g en “ 1, fin d e t sich ein L eb en sb ild vo n J. v o n Kr i e s, d as im G eg en satz zu anderen den p ersön lichen E rleb n issen und G esch icken n u r ganz besch eidenen R a u m gew ä h rt, d a fü r a b er eine äu ß erst w e rtv o lle Ü b e rsic h t d er w issen sch aftlich en A rb eiten des V e rf. b rin g t, in ih rer E n tw ic k lu n g und ih rem in neren Z u sam m enh an g.
L e tzte re r is t freilich n ic h t so zu versteh en , d aß sie säm tlich einem ein zigen E rsch ein u n gs
gebiete zu gew en d et w ären , e tw a dem der G esich ts
em pfindungen, a u f w elch em d er N a m e vo n v . Kr i e s
besonders b ek a n n t gew orden ist. V ielm eh r w ech seln die P roblem e, die er a u f g reift, im L a u fe der Jah re bzw . sie drän gen, b a ld d as eine, b a ld d as andere stärk er an die O b erfläch e. E s g ib t ab er ein G eb iet, a u f das er im m er w ied er z u rü ck k e h rt, das ih n w oh l stets m eh r oder w en iger b e sc h ä ftig t h a t: die B e ziehu ngen zw isch en n ervö sem und p sych isch em Geschehen.
E n t s p r e c h e n d d ie s e r E in s t e llu n g g e w in n e n v o m B e g in n s e in e r w is s e n s c h a ft lic h e n B e t ä t i g u n g a n fü r ih n v o r w ie g e n d I n t e r e s s e e in e r s e its d ie d a m a ls v o n He l m h o l t z, d u Bo i s Re y m o n d u n d A . Fi c k e n t w ic k e lt e a llg e m e in e P h y s io lo g ie d e r M u s k e ln u n d N e r v e n , a n d e r e r s e its d ie v o n E . H . We b e r, A . W . Vo l k m a n n, G . Th. Fe c h n e r u n d He l m h o l t z a u f d a s s in n e s p h y s io lo g is c h e E x p e r im e n t b e g r ü n d e te P s y c h o lo g ie . D ie zu je n e r Z e it a k t u e lle n F r a g e n , a u f d ie e r d a b e i s t ö ß t , n e h m e n ih n in d e ss e n n ic h t g e fa n g e n ; e r g e h t v ie lm e h r v o n A n f a n g a n se in e n e ig e n e n W e g , w a s u m so b e m e r k e n s w e r te r , a ls d ie s e r u n g e w ö h n lic h fr ü h b e g in n t. O ffe n b a r w a r d a s U n t e r r ic h t s w e s e n d a m a ls n o c h n ic h t so b ü r o k r a t is c h g e r e g e lt, d a ß es e in e m b e g a b t e n ju n g e n M an n e n ic h t m ö g lic h g e w e se n w ä r e , k a u m i ö j ä h r i g d ie M itte ls c h u le , 2 1 jä h r ig d ie m e d iz in is c h e A u s b ild u n g a b z u s c h lie ß e n , in w e lc h le t z t e r e z w is c h e n d e n v o r k lin is c h e n u n d k lin is c h e n S e m e s te r n n o c h e in J a h r c h e m is c h e r u n d m a t h e m a t is c h e r S tu d ie n e in g e s c h a lt e t w u rd e .
A u f das m ilitärisch e D ie n st ja h r fo lgte ein zw eijäh riger A u fe n th a lt in B erlin , der teils zu A rb eiten in dem vo n He l m h o l t z geleiteten p h y s i
kalischen In s titu t, teils zu m u sik alisch erA u sb ild u n g verw en d et w u rd e. D a n k seiner h ervo rragen d en B e g a b u n g und g e le ite t vo n einem ausgezeich n eten L eh rer erw arb er sich in d ieserZ e ite in e B e h errsch u n g des K la v ie rs, d ie ihn b efä h ig te, W e rk e d er T o n k u n st w ie J. S . Ba c h s ch ro m atisch e P h an tasie und F u g e, viele S on aten Be e t h o v e n s u. a. in tad elloser
1 Leipzig: F. Meiner 1925, Bd. 4.
Nw. 1929
T e c h n ik und m it p lastisch em A u sd ru ck , m eist a u s
w en dig, zu m V o rtr a g zu bringen.
O stern 1877 ü b ern ah m v . Kr i e s am L eip zig er p h ysiolo g isch en In s titu t die A ssisten ten stelle fü r p h ysik a lisch e P h ysio lo gie, in der er sich ein J ah r sp äter h a b ilitie rte . D en E in d ru c k , den er vo n dem vo n C . Lu d w i gm it leid en sch aftlich er A rb eitsfreu d e g ro ß zü g ig g eleiteten In s titu te und dem überaus anregen den V e rk e h r in dem selben erh ielt, h a t er w ied e rh o lt g esch ild ert. E s is t ein Z eichen d er W e r t
s ch ä tzu n g , d ie Lu d w i g dem ju n gen A ssisten ten en tg eg en b rach te, d a ß er ih m , gegen seine sonstige G ew o h n h eit, die W a h l d er zu bearb eiten d en A u f
g ab e ü b erließ . E s en tstan d en die U n tersu ch u ngen zu r M ech a n ik d er M u sk elzu cku n g , die den N a c h w eis erb ra ch ten , d a ß d ie bei der E rreg u n g a u f
treten d en k o n tra k tile n und die d u rch D efo rm atio n w ach geru fen en elastisch en K r ä fte des M uskels n ic h t u n ab h än g ig vo n ein an d er sind, sondern, w eil o ffen b ar an d ie gleichen S tru k tu relem en te ge
bun den, sich gegen seitig beein flu ssen. D a m it w ar im G eg en satz zu den d am als herrschenden A n sch au u n gen gezeigt, d a ß die E n ergieen tw icklu n g , die der als Z u ck u n g bezeich n eten T ä tig k eitsfo rm e n tsp rich t, d u rch den auslösenden R e iz n ic h t ein d e u tig b estim m t, sondern in jed em A u g e n b lic k des E rreg u n g sab la u fes d urch die jew eilig e B e a n sp ru ch u n g m o d ifizierb a r ist. Ü b er w eitere, hierh er gehörige B e o b a ch tu n g en h a t er au ch in sp äteren Jah ren b erich tet. In L eip zig leg te v . Kr i e s au ch den G ru n d zu seinen au sged eh nten S tu d ien zu r P h ysio lo gie der G esich tsem pfin d u n gen u n d -Wahr
nehm ungen, die ihn w eiterh in n och in großem U m fan ge b esch äftigen sollten.
D er A u fe n th a lt in L e ip zig d a u erte n u r 5 Jah re.
1882 erh ielt v . Kr i e s den R u f n a ch F re ib u rg , das zu seinem dauern den W o h n sitz w erd en sollte.
S p ätere B eru fu n gen , 1895 n ach L e ip zig , 1897 n ach B erlin , 1908 n ach M ünchen, leh n te er n ach re if
lich er Ü b erlegu n g ab, h a u p tsä ch lich d esh alb, w eil er fü rch tete , d u rch verm eh rte U n terrich ts- und V erw altu n g sp flich te n vo n den w issen sch aftlich en A u fg a b en ab gezogen zu w erden , die ih m am H erzen lagen . In den ersten Jah ren seiner F reib u rg er T ä tig k e it feh lte es allerd in gs n ic h t an S ch w ierig
k eiten d u rch räu m lich e u n d fin an zielle B een gu n g u n d m a n g elh a fte A u srü stu n g des In stitu ts. M it dem rasch en A u fb lü h e n d er U n iv e rs itä t stellten sich ab er b a ld reich lich ere M ittel ein und als dann die b ad isch e R e g ie ru n g sich zu einem N eu b au des I n s titu te s e n tsch lo ß , d er 1891 erö ffn et w urde, d u rfte n alle b erech tig ten W ü nsch e als e rfü llt g elten . U n u n terb ro ch en fließ en nun die A rb eiten , die er teils allein, teils u n te rstü tz t d urch M itarb eiter,
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436 v o n Fr e y: Jo h a n n e s v o n Kr i e s. 1 8 5 3 — 1 9 2 8 . r Die Natur
wissenschaften in den A rc h iv e n vo n d u Bo i s Re y m o n d und Pf l ü
g e r, in der Z e itsc h rift fü r P sy ch o lo g ie und Sin n es
p h ysiologie, in G elegen h eitssch riften u n d a n d e r
w ä rts zu r V erö ffe n tlich u n g b rin g t.
A u s d er allgem ein en P h y sio lo g ie der M uskeln und N erv en b esch äftigen ih n zu n ä ch st die q u a n ti
ta tiv e n B ezieh u n gen , die zw isch en d em R e ize rfo lg und den zu seiner A u slö su n g ve rw e n d e ten e le k tr i
schen S tröm en b esteh en . E s g e lan g ihm , d as V e r
h a lten versch ied en er erregb aren G ew eb e oder d es
selben G ew ebes je n a ch T em p e ra tu r oder anderen V ersu ch sb ed in g u n gen d a d u rch q u a n tita tiv zu c h a ra k terisieren , d a ß er die S trö m e en tw ed er m it versch ied en er S te ilh e it ansteigen ließ (R eizd iviso ren 1884), od er ih n en versch ied en e D a u e r g a b (Z eit
q u o tie n t 19 19 ). B e id e B e tra c h tu n g sw e isen führen ohne B in d u n g an b estim m te th eoretisch e V o ra u s setzu n gen , zu r K e n n ze ich n u n g gew isser p h y sio lo g i
sch er B eso n d erh eiten , d ie als A u s d ru c k v o n der E rre g u n g en tgeg en a rb eiten d en E in flü ssen b zw . des S p eich eru n gsverm ö g en s fü r R e ize g e d e u te t w erd en m üssen. D ieselb en E in flü sse zeigten sich au ch b ei d er P rü fu n g m it oszillierenden S tröm en w irk sa m , zu deren H e rstellu n g er eine neue, in der P h y sio lo g ie b is d ah in n ich t verw en d ete M eth ode e n tw ic k e lte (1884).
E in ig e klein ere M itteilu n gen ü b er a llo rh y th m i
sche H e rz tä tig k e it kön nen den vo rsteh en d en A rb e i
ten z u g e zä h lt w erd en , d a sie sich m it d er E rreg u n g s
le itu n g im H erzen b efassen . Sie bild en zu gleich den Ü b e rg a n g zu den U n tersu ch u n g en ü ber die zeitlich en Ä n d eru n g en vo n D r u c k und G esch w in d ig
k e it in den S ch la g a d e rn .
Seh r w ic h tig e F o rts c h r itte in d er K e n n tn is des P u lses brin gen d ie Jah re 1883 — 1892. N ach d em E . H . W e b e r und W . We b e r 1825 u n d 1850 zu erst a u f die W e llen n a tu r des P u lses h in gew iesen und eine T h eorie d er S ch la u ch w ellen a u fg e ste llt h a tte n , z e ig t v . Kr i e s in ebenso e in fach en w ie zw in gend en V ersu ch en , die w eitg eh en d e Ü b e r
e in stim m u n g zw isch en b e o b a ch te te n V o rg än ge n und th eo retisch er E rw a rtu n g u n d u n tersu ch t den E in flu ß v o n R e fle x io n e n u n d R e ib u n g . D ies fü h rt ih n 1887 zu r A u sb ild u n g eines V erfah ren s (T acho- grap h ie), d u rch w elch es d er m it dem P u lse e in h ergehen de p eriod isch e W ech sel in d er arteriellen B lu tg e sc h w in d ig k e it (bezogen a u f die k o n sta n te venöse) u n m ittelb a r zu r D a rste llu n g g elan gt.
A u s dem V ergle ich vo n G esch w in d ig k eits- und D ru c k k u rv e n einer A rterie lä ß t sich der einzelne P u lssch la g in eine R eih e teils stro m läu figer, teils geg en lä u figer W ellen au f lösen. E in e große Z a h l bis d ah in u n versta n d en er E ig e n tü m lich k e iten des m ensch lich en Pu lses, seine ö rtlich e V ersch ied en h eit und seine B e e in flu ß b a rk e it vo n der P erip h erie aus, fin d e t d a m it ihre E rk lä ru n g .
E in en großen T e il seiner w issen sch aftlich en A rb e it h a t v . K r i e s der P h y sio lo g ie der G esich ts
em pfin d u n gen zu gew en d et und es is t w oh l dieser T eil, der seinen N am en in m edizin ischen K reisen a m m eisten b e k a n n t g e m a ch t h a t. E r g ilt d o rt a ls der V e rteid ig er der Y o u N G - H E L M H O L T z s c h e n
T h e o rie d er F arb en e m p fin d u n g und a ls b e d eu te n d ste r G egn er d er He r i n gsehen, eine A u ffa ssu n g , d ie freilich den S a c h v e rh a lt n ic h t e rsch ö p ft.
G ew iß h a t v . Kr i e s die S ch w äch en d er He r i n g- schen T h eo rie als erster e rk a n n t. D a s, w as ihn a b er v e ra n la ß te , sich dem G eg en stän d e zu zu w e n den, v e r r ä t er in der E in le itu n g zu der S c h rift vo n 1882 m it den W o rte n : ,,D ie G esich tsem p fin d u n gen w aren d as erste Sin n esgeb iet, in n erh alb dessen es gelan g, die A b h ä n g ig k e it der E m p fin d u n g en vo n d er B e sc h a ffen h e it des a d ä q u a ten R eizes in e in fa ch er und p räziser W eise a u f R egeln zu b rin g e n ."
W e ite r h e iß t es d o rt: „ A ls das klassisch e u n d b a h n b rech en d e W e rk vo n He l m h o l t z erschien, b e fan d sich diese S eite der L eh re v o n den G esich ts
em pfin d u n gen n och in den A n fä n g en und is t d e m gem äß seh r k u rz a b g eh a n d e lt. S e it jen er Z e it is t die S ach e v o r allem d u rch die sehr b ed eu ten d e V erm e h ru n g des M a te ria ls vo n b e o b a ch te te n T a t sachen in ein neues S ta d iu m g e tre te n .“
A n d ie s e r B e r e ic h e r u n g d e r K e n n t n is s e h a b e n n u n v o n Kr i e s u n d se in e M ita r b e it e r , u n t e r d e n e n v o r a lle m W . Na g e l z u n e n n e n is t , d e n e n ts c h e id e n d e n A n t e il. D e n n d u r c h d ie u n a b lä s s ig e n B e m ü h u n g e n d e r F r e ib u r g e r S c h u le , A r b e it e n , d ie d u r c h s c h a r fe F r a g e s t e llu n g u n d z w e c k m ä ß ig e M e t h o d ik e b e n s o a u s g e z e ic h n e t sin d w ie d u r c h k ü h le K r i t i k u n d s c h a r fs in n ig e V e r w e r t u n g d e r E r g e b n is s e , h a t es g e lin g e n k ö n n e n , d a s sc h w ie r ig e u n d d u r c h v ie le r le i W id e r sp r ü c h e v e r w o r r e n e G e b ie t so z u k lä r e n , d a ß e in e f r u c h t b a r e F o r s c h u n g s a r b e it e in s e tz e n k o n n te . D e n H a u p t a n s t o ß z u r F ö r d e r u n g g a b v o n Kr i e s
1894 d u r c h d e n g lü c k lic h e n G e d a n k e n , d ie e ig e n tü m lic h e n V e r ä n d e r u n g e n , d ie f a r b ig e L i c h t e r b e i s t a r k v e r m in d e r t e r I n t e n s i t ä t e rle id e n (sog. Pu r- K iN jE s c h e s P h ä n o m e n ) , a u f d ie v o r h e r r s c h e n d e E r r e g u n g e in e s b e s o n d e re n S e h a p p a r a te s , d e r S t ä b c h e n , z u b e z ie h e n , w o b e i e r a n k n ü p f t e a n B e o b a c h t u n g e n v o n Ma x Sc h u l t z e, E . He r i n g u n d F . Hi l l e b r a n d u n d A . Kö n i g. D u r c h e in g e h e n d e u n d h ö c h s t s o r g fä lt ig e U n te r s u c h u n g e n a n F a r b e n b lin d e n k o n n te d ie s e A u f f a s s u n g in e in e r W e is e g e s ic h e r t w e rd e n , d ie a lle E r w a r t u n g e n ü b e r t r a f. D ie He r i n g se h e S c h u le h a t d ie a ls D u p liz it ä t s t h e o r ie b e z e ic h n e t e D e u t u n g la n g e Z e it a b g e le h n t, w o b e i d e r v o n C . v o n He s s t e m p e r a m e n t v o ll g e fü h r t e E in s p r u c h se h r u n e r fr e u lic h e , m it lit e r a r is c h e r G e r e c h t ig k e it n ic h t v e r e in b a r e F o r m e n a n n a h m . Im m e r h in k a n n d e n E in w ü r fe n d a s V e r d ie n s t z u e r k a n n t w e rd e n , d ie in te r e s s ie r te n K r e is e a u f d ie sc h w e b e n d e n F r a g e n a u f m e r k sa m g e m a c h t u n d N a c h p r ü fu n g e n a n g e r e g t zu h a b e n .
W ie d erh o lt h a t v . Kr i e sG elegen h eit genom m en b zw . sich b e reit gefunden, den a u gen b lick lich en S ta n d d er A n g ele gen h e it zusam m en fassen d d a r
zu stellen , zu erst in einer A r t P ro g ram m sch rift im Jah re 1882, dann in Na g e l s H a n d b u ch 1895, in der 3. A u fla g e v o n He l m h o l t z H a n d b u ch d er ph ysiolo g isch en O p tik 19 1 1 , z u le tz t in den k lin i
schen M o n atsb lättern fü r A u g en h eilku n d e 1923.
Heft 24. 1 14. 6. 1929J
D ie kn app e, ü b era ll a u f d as W esen tlich e gerich tete D arstellu n g , die P räzisio n der A u sd ru ck sw eise, die leid en sch aftslose W ü rd ig u n g aller gesich erten B e o b ach tu n gen u n d ih re O rd n u n g zu einem ü b er
sich tlich em G an zen m achen diese Z u sam m en fassun gen ebenso anregen d w ie leh rreich . D a b ei w ird n irgen d s versch w iegen , w o die E in sich t lü ck en h a ft, d ie D e u tu n g u n sich er ist.
So seh r diese U n tersu ch u n gen v . Kr i e s b e sch ä ftig ten u n d d u rch den F o rts c h r itt, den sie in der E rk e n n tn is des S e h a k tes h erb eifü h rten , b e friedigen m u ß ten , so d ü rften sie ihn doch ka u m w eniger a u s dem G ru n d e gefesselt h aben , w eil sie die M ö g lich k eit b ieten , au s den seelischen E r scheinu ngen Sch lü sse a u f d as zu geh örige, p h y sio logische G esch ehen zu ziehen. In d iesem Z u sam m en - h ange sind seine S tu d ien ü ber die ein fach sten D e n k prozesse zu w ü rd igen , die E n tste h u n g vo n G enerali- sationen u n d B e g riffe n u n d die versch ied en en F orm en ih rer V erk n ü p fu n g , F ra g e n , die ihn zu w eitau sh o len d en U n tersu ch u n g en ü b er die B e d eu tu n g u n d A rte n d er U rte ile v e ra n la ß te n . Zu der K a te g o rie dieser A rb e ite n gehören au ch „ D ie P rin zip ien der W a h rsc h ein lich k eitsre ch n u n g ", die 1886 erschienen sind und 1927 einen N e u d ru ck erlebten. E s m u te t an w ie leise S elb stiron ie, w en n v . Kr i e s in seinem L eb en sb ild e gew isserm aßen en tsch u ld igen d m ein t, dies seien seinem B e ru fe frem de S ach en , also sozu sagen A llo tria .
D e r Z u sam m en h an g m it den p h ysiolo g isch en F ragen , d enen er n ach gin g, z e ig t sich indessen u n verk en n b a r in seiner R e k to ra tsred e vo n 1898,
„ Ü b e r d ie m a teriellen G ru n d lagen der B e w u ß t
sein sersch ein u n g en "1. H ie r w ird in ein d ringlich er W eise die U n z u lä n g lic h k e it d er b is d ah in h errsch en den E rk lä ru n g sv e rsu c h e a u fg e ze ig t, die h a u p t
säch lich a u f den P rin zip ien der L e itu n g und A sso ziatio n fu ß te n , e tw a e rg ä n zt d u rch B a h n u n g und H em m u n g. D ie gen au ere B e tr a c h tu n g zw in g t zu der A n n ah m e, d a ß die M ö g lich k eit des A u f ein an d erw irken s gle ich zeitig e r oder u n gleich zeitiger E rregu n gen u n ter allen U m stä n d en vo n vornh erein gegeben, d a ß A r t und S tä rk e , m it der sie au fein ander reagieren , vo n dem G esam tzu stan d e des ihnen zu g ä n g lich en G eb ietes a b h än g ig sein m u ß . Ä h n lich v e rm u te t er in seiner S c h rift „ Z u r P sy ch o -
1 Auch Tübingen und Leipzig 1901.
437 logie der U r te ile ", d a ß w ir n ic h t g e n ö tig t sind, das S u b s tra t des W o rtv erstä n d n isses im B e w u ß tse in zu suchen, sondern in gew issen p h ysiolo gisch en Z u stän d en , in cereb ralen D isp o sitio n en 1. O hne d aß er es au ssp rich t, kön nen d a ru n ter w o h l n u r ch e m ische R ea k tio n en versta n d en sein, e tw a so, w ie ein ein dringen der K ra n k h e its sto ff in den G ew eben e n tzü n d lic h e,an a p h yla k tisch e , im m un isieren de oder a u ch au fb au en d e W irk u n gen h e rv o rzu ru fe n im stan d e ist. D a s V erb lü ffen d e is t nur die M an n ig
fa ltig k e it und G esch w in d igkeit, m it der diese U m stim m u n g en im Z en traln erven sy stem v o r sich gehen. In dem gen an n ten E n tw u r f d e u tet v . Kr i e s
ferner des n äh eren an, in w iew eit diese V o rstellu n gen in E in k la n g g e b ra ch t w erden kö n n ten m it dem , w as üb er den histologisch en B a u des G ehirns bish er b ek a n n t gew orden ist. H ie r sind A n reg u n gen ge
geben, deren w eiterer A u sb a u einer k ü n ftig en P s y c h o p h y s ik V orb eh alten b leib t.
D a s E rg eb n is dieser la n g jä h rig en S tu d ien und Ü b erlegu n gen h a t er sch ießlich in zw ei W erk en v o n seltenem G ed an k en reich tu m n ied erg elegt, der
„ L o g ik " v o n 1 9 1 6 u n d d er „A llg e m e in e n Sinnes
p h y sio lo g ie " vo n 1 9 2 3 , die d u rch die überlegene B e h errsch u n g des S to ffes, w ie d u rch die k ritisch e und w eitb lick e n d e V e rw e rtu n g desselben gleich b em erk en sw ert sind u n d reich e A n reg u n g bieten .
D ie L e k tü re der S ch riften vo n v . Kr i e s, n am en tlich au ch der fü r w eitere K reise b estim m ten A u fs ä tze in den Na t u r w i s s e n s c h a f t e n, ferner der G ed ä ch tn issc h rift a u f K A N T 1 9 2 4 und des geistvo llen E s s a y s , „ W e r is t m u sik a lisc h ? ", lo h n t sich in dessen n ich t n u r um ihres In h a lts w illen, sondern a u ch zu dem Z w eck e, die P ersö n lich k eit des V e r fassers kennenzulernen. E rsta u n lic h es u n d v ie l
seitiges W issen, durch d ringen d e V erstan d essch ä rfe und bezieh u n gsreich e K o m b in atio n verein ig en sich in ihnen m it S ch lic h th eit des A u sd ru cks, S e lb st
b esch eid u n g und gerech ter W ü rd ig u n g frem d er V e r d ienste zu einem üb erau s anzieh en den G e s a m tb ild e : N ich ts U n n ü tzes, kein erlei A u fm ac h u n g , stren g e S a ch lich k eit. D ie d eu tsch e geleh rte W e lt d a rf sto lz sein, d a ß sie diesen w eisen und h o ch gesin n ten M ann zu dem ih rigen zäh len kan n .
1 Vjschr. f. wiss. Philosophie 23, 7 (1899). In dem Bibliotheksexem plar glossiert ein Leser diese ihm offen
bar nicht genehme Auffassung als „horrend".
He i d e r m a n n s: Die chemisch-anatomische Betrachtungsweise in der Zoologie.
D ie ch em isch -a n ato m isch e B etrach tu n gsw eise in der Z oologie.
V o n Cu r t He i d e r m a n n s, B o n n a. R h .
(Aus dem Zoologischen und Vergleichend-Anatomischen Institu t der Universität.) D as tiefere E in d rin gen in die L eb e n svo rgä n g e
h a t es m it sich ge b ra ch t, d a ß a u ß e r d er Zoologie und B o ta n ik au ch m anch e b e n a ch b a rte D iszip lin en , v o r allem die C h em ie u n d die P h y sik , sich m it den L eb ensersch einu ngen b efassen . D ies is t desw egen v o n beson derer B e d eu tu n g , w eil so V e r tre te r n ic h t
b iologisch er F a c h g e b ie te sich m it b iologischen Prob lem en a b geb en m üssen u n d sie in folg e ih rer an d ersartigen F a c h a u sb ild u n g le ic h t vo n anderen G esich tsp u n k ten aus b e tra c h te n als die V e r tre te r
dieser W issen sch a ft selb st. N ic h t zu m w en igsten b e ru h t dies d a ra u f, d a ß ihnen n atu rge m äß fü r die B e u rte ilu n g b io lo gisch er F ra g e n vieles feh lt, w as d em B io lo gen g e lä u fig ist, and ererseits h ab en sie den V o rte il, d a ß sie v o n ih rem F a c h g e b ie t h er
— w äh len w ir als B eisp iel das d er Chem ie fü r die B e u rte ilu n g der ch em isch-biologisch en P ro zesse eine b ei w eitem bessere G ru n d lage b e sitzen als d er B iologe.
Im folgen d en seien zw ei d u rch diese E n tw ic k 33*
438 H e i d e r m a n n s : Die chemisch-anatomische Betrachtungsweise in der Zoologie. f Die Natur- [ Wissenschaften lu n g b ed in g te B e trac h tu n g sw e isen ein an d er ge g e n
ü b e rg estellt und an ein igen g e w ä h lte n B eisp ielen das F ü r und G eg en m itein a n d e r v e rg lich e n .
1. D ie morphologische Betrachtungsweise der Organis
men.
D ie Z oologie b e tr a c h te t d en O rgan ism u s als eine E in h eit, ch a ra k te ris ie rt ih n n a ch seiner F o rm , n a ch d er A u sb ild u n g u n d G e s ta ltu n g sein er O rgan e, ja , gerad e diese n im m t sie als K e n n ze ich e n seines E n tw ick lu n g sg ra d e s, n a ch ih n en su ch t sie seine L eb en sw eise zu ve rste h en , k u rz : D ie m orp h ologisch e G e s ta ltu n g — im w eitesten Sinne g e fa ß t — is t ih r das W e sen tlic h e z u r K e n n ze ich n u n g des O rgan ism u s.
D iese A u ffa s s u n g b e sc h rä n k t sich n ic h t a u f die M orp h ologie im engeren Sinne, sondern h a t sich a u f die D iszip lin en , die sich sp ä ter a b g e z w e ig t h ab en , ü b e rtra g e n . Sie a lle h ab en d as gem ein sam , d a ß sie in d er G e s ta ltu n g des O rgan ism u s u n d seiner T eile, d e r O rgan e, d as W esen tlic h e ih rer B e tr a c h tu n g sw e ise seh en und sie zu m M a ß sta b a u ch des fu n k tio n e llen G esch eh ens m ach en.
D ie se A u ffa s s u n g sp ie g e lt sich w id er in allen H y p o th e s e n u n d T h e o rien ü b er d ie V e r w e rtu n g d e r b io lo gisch en T a tsa c h e n . Sie k o m m t zu r G eltu n g in d er D eszen d en zleh re, d ie h eu te die biologisch e D e n k w e ise v o lls tä n d ig b eh errsch t. D a s n atü rlich e S y s te m d er O rgan ism en is t ein S p ieg elb ild einer solch en g en etisch en A u ffa ssu n g .
M an fa ß t d esw egen T u n ic a ta , A c ra n ia und C ra n io ta zu d er G ru p p e d er C h ord o n ia zusam m en , w eil alle als gem ein sam es M e rk m a l eine C h ord a b esitzen u n d diese C h ord a als b e stim m te s m o rp h o logisch es G eb ild e erk e n n b a r ist. M an re c h n e t d es
w egen die M ollu sken in d ie E n tw ic k lu n g sre ih e d er A n elid en , w eil die b ei m an ch en A r te n a u ftre te n d e V e lig e r la r v e gro ß e m orp h ologisch e Ä h n lic h k e it m it d er T ro ch o p h o ra b e sitzt. Je g rö ß er d ie Ü b e re in stim m u n g d er G e s ta ltu n g d er O rgan e, als d esto n äh er w ird die v e rw a n d ts c h a ftlic h e Z u sa m m e n g e h ö rig k e it b e tra c h te t.
D a s Z u g ru n d eleg en v o n b iom orp h ologisch en G eb ild en , w ie sie d er O rgan ism u s m it seinen O rg a n en d a rs te llt — so sei die d u rch den O rgan ism u s erzeu g te F o rm g e sta ltu n g b e ze ich n et — zu r E r k lä ru n g des b iologisch en G esch ehens t r i t t au ch b e i d en V ersu ch en z u ta g e, aus dem B a u eines O rgan s a u f seine F u n k tio n zu sch ließ en . W elch e B e d e u tu n g diese B e tra c h tu n g sw e ise in den le tz te n J ah rzeh n ten g e h a b t h a t und m it w elch em E rfo lg e sie v ie lfa c h a n g ew a n d t w ord en ist, b ra u c h t n ic h t h e rv o rg e h o b e n zu w erden . D ie E rsch ein u n g en der A n p a ssu n g an die versch ied en en äu ß eren L e b e n s
b ed in g u n g en w erd en g erad ezu an d er F o rm g e s ta ltu n g d er en tsprech en d en O rgan e gem essen.
D e r G ra d des R u d im en tärw erd en s v o n O rgan en w ird zu m M a ß sta b des p h ylo g en etisch en A lte rs ge m a ch t. D ie d u rch e xp erim en telle E in g riffe b e w irk te a ty p isc h e E n tw ic k lu n g w ird an d er e n t
steh en d en D e fo rm a tio n od er anom alen G e sta ltu n g e rk a n n t.
2. D ie Schw ierigkeiten der biomorphologischen B e trachtungsweise .
A u f a llen G eb ieten , d ie n a ch b io m o rp h o lo gisch en G esic h tsp u n k te n b e a r b e ite t w erd en , m ach en sich m an ch e S ch w ie rig k e ite n b e m e rk b a r. D a fü r einige B eisp iele.
D ie G lied eru n g d er L eb e w e se n a u f d er G ru n d la ge ih rer n a tü rlich e n gen etisch en B e zie h u n g e n z u ein a n d e r w äre ein w a n d fre i d u rch zu fü h ren , w en n es ein, a b er a u c h n u r ein a llg em ein vo rh a n d e n es b io m orp h ologisch es M erkm al gäb e, an d em die gen etisch en B e zie h u n ge n gem essen w erd en kön nten.
T a ts ä c h lic h a b er fin d e t m an, w ie d as ja a u ch s e lb st
v e rs tä n d lic h ist, ein e u n geh eu er gro ß e A n z a h l d e ra rtig e r M erkm ale, eben die A rtu n te rsc h e id u n g s
m erkm ale. W e lch e m d ieser M erkm ale od er w elch en M erk m alsgru p p en m an die h öh ere o d er gerin gere B e d e u tu n g zu m iß t, d a fü r h a t m an k ein en re ch te n M a ß stab , d er A n sp ru c h d a ra u f erh eb en kö n n te, v o n s u b je k tiv e r A u ffa s s u n g fre i zu sein. B eso n d ers g ro ß w erd en diese S ch w ie rig k eite n , w en n in T ie r gru p p en , die o ffe n b a r n a ch d er g ro ß en A n z a h l d er sie gem ein sam ch a ra k te risieren d e n M erkm ale zu sam m en geh ö ren , ein igen G a ttu n g e n od er A rte n ein zeln e M erk m ale v ö llig feh len o d er d o ch so g e s t a lt e t sind , d a ß sie fü r sich b e tr a c h te t, a u f eine v ö llig an d ere Z u g e h ö rig k e it sch ließ en lassen. M an fin d et, d a ß stets d an n dieses M erk m al fü r die p h y lo gen etisch en B ezieh u n g en a u ß e r a c h t gelassen w ird . In an d eren F ä lle n , in d enen d ie D e u tu n g n ic h t so ein fac h ist, e n tsteh en b a ld zw isch en den versch ied en en U n tersu ch e rn M ein u n g sv er
sch ied en h eiten ü b er die W ic h tig k e it ein er solchen m orp h o lo gisch en B ild u n g . D a ß solche V ie ld e u tig k e iten w irk lic h a u ftrete n , zeigen die v ie len S ta m m bäu m e, die v o n den versch ied en en B e a rb eitern a u fg e ste llt sind.
V o r a llem d e u tlic h w erd en die S ch w ie rig k eite n b e i d em V ersu ch , den B a u eines O rgan s zu dem q u a n tita tiv e n M aß d er F u n k tio n zu m ach en . W o h l fin d e t m an au ch d a geleg en tlich Ü b erein stim m u n g en , die sich a b er d an n stets als S p ezialfä lle erw eisen.
Je gen au er m an zu sieh t, je stre n g er m an den M a ß s ta b n im m t, d esto w en iger b ra u c h b a r w erd en in d ieser H in sic h t die a u f rein m orp h ologisch er G ru n d la g e g e s tü tzte n W e rte .
D ie e rw ä h n ten S ch w ie rig k eite n ein er rein m orp h o lo gisch en A u ffa s s u n g und A rb e itsw eise k o n n ten in v ie len F ä lle n d a d u rch g em ild ert w erden , d a ß p h ysiolo g isch e M om ente b ei d em F u n k tio n s gesch eh en m it b e rü c k s ic h tig t w u rd en . B e i b io m o rp h o lo gisch er B e tra c h tu n g s w e is e geben G rö ß e, L ä n g e , Q u ersch n itt, F ied erb a u , S a rk o p la sm a g eh a lt u n d M y o fib rillen re ic h tu m eines M u skels A n h a lts p u n k te zu r K e n n ze ich n u n g sein er L e is tu n g s fä h ig k e it. E s is t ab er b e k an n t, d a ß selb st g leich g e b a u te M u skeln eine versch ied en e L e is tu n g s fä h ig k e it b esitzen , je n ach d em w ie gro ß d as q u a n tita tiv e A u s m a ß d er ch em isch en und p h y sik a lisch en P ro zesse in ih rem In n ern ist, w ie groß z. B . die M enge d er in d er Z e ite in h eit freiw erd en d en M ilch- u n d P h o sp h o rsäu re, w ie h o ch d er P ro ze n ts a tz
Heft 24. 1 H e i d e r m a n n s : Die chemisch-anatomische Betrachtungsweise in der Zoologie.
14. 6. 1929J 439
der R e syn th e se , w ie sch n ell die B e se itig u n g der V erb ra u ch ssto ffe, w ie g ro ß die A lte ra tio n s fä h ig k e it d er M u sk elfaserg ren zsch ich ten ist, u. a. m . F ü h r t m a n solch e U n tersu ch u n g en d u rch , so e rg ib t sich, d a ß b eim gleich en M u sk el n ah e v e r w an d ter T ie re die b iom orp h ologisch e G esta ltu n g allein b e reits ein ziem lich e x a k te s M aß d er L e istu n g g ib t, d as a b er u m so u n zu ve rlä ssig er w ird , je w eiter die u n tersu ch ten A rte n gen etisch vo n ein a n d er e n tfern t sind. E s is t dies d ah in zu d eu ten , d a ß der E in flu ß a ll d er chem isch en u n d p h y sik a lisch en P rozesse b ei dem V o rg a n g d er M u sk elk o n tra k tio n sich u m so ve rsch ied e n e r b e m erk b a r m a ch t, je w eiter die verg lich e n e n A rte n v e rw a n d tsc h a ftlic h v o n ein a n d e r e n tfe rn t sind. So v e rm a g die B e r ü c k sich tigu n g p h ysiolo g isch en G esch ehens d ie m o r
p hologische A n a ly se zu v e rtie fe n . D iese E rw e i
teru n g d er m orp h ologisch en B e trac h tu n g sw e ise d u rch B e rü c k s ic h tig u n g p h y sio lo g isc h er F a k to re n stam m t au s d em b io lo gisch -p h ysio lo gisch en L a g er, is t also au s d er S p ezialisieru n g d er u rsp rü n g lichen b iom orp h ologisch en S ta m m w issen sch a ft h e r
vorgegan g en .
3. D ie chemisch-anatomische Betrachtungsweise.
D em g egen ü b er h a t sich in d er jü n g sten Z e it eine B e tra c h tu n g sw e ise h era n g eb ild et, w elch e vo n F o rsch ern au sgin g, die im w esen tlich en v o n anderen n atu rw issen sch a ftlich en D iszip lin en h er sich der eig en tlich en B io lo g ie g e n ä h e rt h ab en . V o r allem is t h ier a n zu fü h ren die au s d er C h em ie e n ts ta n dene, ih r in ih ren A rb e itsm e th o d en seh r n ah e stehende p h ysiolo g isch e C h em ie. D e r p h y sio lo g i
sche C h em iker, d er den O rgan ism u s m it den e x a k ten M eth od en d er C h em ie u n tersu ch t, u m seine stofflich e Z u sa m m en setzu n g kenn en zu lern en , t r it t in einer ga n z an d eren E in ste llu n g an den O rgan is
m us h eran w ie d er B io lo ge.
D er C h em ik er sieh t d ie ein zeln en , den O rg a n is
m us au fb au en d en V erb in d u n g en als die w esen t
lichen B e sta n d te ile an, v o n denen jed e ih re b e sondere F u n k tio n zu erfü llen h a t, u n d d ie fü r ihn e tw as Ä h n lic h es d a rstelle n w ie die m orp h ologisch en O rgan e u n d ih re F u n k tio n e n fü r den B io lo gen . W ie d er B io lo g e den O rgan ism u s m o rp h o lo gisch an atom isch zerglied ert, a n a ly sie rt ihn der C h em iker in die ihn zu sam m en setzen d en ch em isch en V e r b in d u n gen und B e sta n d te ile, die sog. chemischen O rgane und le g t sie k o n stitu tio n ell und fu n k tio n ell fest. So is t m an vo n d ieser S eite h er zu ein er ch e m ischen A n a to m ie gekom m en, die in ih rer A u s w irk u n g in einem b e w u ß te n G eg en satz zu der b io m orphologisch en B e tra c h tu n g sw e ise steh t.
D ieser G eg en satz b e ru h t n ic h t d a ra u f, d a ß d a d urch a u sg e d rü c k t sein soll, d a ß die m orph ologisch e A n a to m ie gegen stan d slo s gew ord en sei, sondern d arau f, d a ß m eth o d isch d er O rgan ism u s v o n gan z anderen G esich tsp u n k ten au s b e tr a c h te t w ird.
D e r m eth od isch e G eg en satz is t d ah er in W ir k lich k eit n u r eine E rg ä n z u n g z u r m orp h ologisch en B etrac h tu n g sw eise, od er a u ch u m g ek eh rt, w enn m an in d er ch em isch -an ato m isch en A u ffa ssu n g
d as p rim äre und in d er m o rp h o lo gisch -an ato m isch en das sek u n d äre, die E rg ä n zu n g , sieh t.
D ie P rä g u n g des A u sd ru c k s ein er ch em isch en A n a to m ie is t m eines W issen s z u erst v o n Em b d e n
b ei seinen U n tersu ch u n g en ü b er den C h em ism us d er M u sk elk o n tra k tio n a n g ew a n d t w ord en . E s b ra u c h t k a u m d a ra u f h in gew iesen zu w erd en , d a ß b e i d er M a n n ig fa ltig k e it d er M e th o d ik w ir e rst in den a llerersten A n fä n g en ein er solch en B e tra ch tu n g sw eise steh en .
E in ig e ty p is c h w ich tig e B eisp iele, die d as W esen der ch em isch -an ato m isch en O rg a n au ffa ssu n g b e leu ch ten , seien k u rz an g efü h rt. Sie b e treffen d as S to ffw ech selgesch eh en , d as E n tw ick lu n g sg esch eh en und die gen etisch en B ezieh u n gen d er chem ischen O rga n e m itein an d er.
E in e fü r den C h em ism us der M u sk elk o n tra k tio n w ich tig e V e rb in d u n g is t d as L a cta cid o g e n , in ch em isch -an ato m isch em Sinne ein w oh l c h a ra k te risiertes chem isch es O rgan . D u rc h A b sp a ltu n g v o n M ilch- u n d P h o sp h o rsäu re, die au ch ih rerseits in freiem Z u sta n d e als ch em ische O rgan e a u f
zu fassen sind, und ih re E in w irk u n g a u f andere V erb in d u n gen in den M yo fib rillen w ird die K o n tra k tio n v e ru rs a c h t. D ieser P ro ze ß w ird v e rm itte lt d u rch fe rm e n ta tiv e V o rg än ge. D a ab er a u ch die F e rm e n te als chem isch e O rgan e a u fzu fa ssen sind, so g r e ift im S to ffw ech selgesch eh en ein O rgan an d as and ere k e tte n a r tig an, bis die R e a k tio n s k e tte geschlossen ist, die uns bio m o rp h o lo gisch als V e r k ü rzu n g des M u sk els b zw . B e w e g u n g d er G lied m aß en v o r A u g e n tr itt.
D a s W esen tlic h e am K o n tra k tio n s v o rg a n g w ird d a d u rch in die p h ysik o -ch em isch en P rozesse geleg t, d ie sich im M u sk el abspielen , die in ih rer Sum m e ein q u a n tita tiv e s M aß d er L e is tu n g geben.
V o rg ä n g e äh n lich er A r t lassen sich a u ch im on to g en etisch en G esch ehen n ach w eisen . D a s h ie r
fü r g ew ä h lte B e isp iel is t sch em atisiert, es so ll au f eine M ö g lich k eit hin w eisen — d a uns n och z u v ie l E in ze lta tsa c h e n fehlen, w ie w ir uns an H a n d b e reits b e k a n n te r h ierh in geh ören d er V o rg ä n g e eine V o rs te llu n g v o n d em W esen d er o n to g en etisch e n E n tw ic k lu n g im chem isch-anatom ischen S in ne m a chen können, u n d w ie dieses o rg an b ild en d e G e schehen im engen Z u sa m m en h an g m it sp äterem , fu n k tio n eilen G esch eh en s teh t.
In den Sam en - u n d E iz e lle n fin d e t sich eine beson d ere G ru p p e v o n E iw eiß k ö rp ern , die P r o ta m ine, so z. B . im S alm in und S tu rin , in dem sie an N u clein säu ren geb u n d en V orkom m en . Sie tre ten au ch , w en n a u ch in gerin g er M enge, ü b erall in an d eren O rgan en au f.
M i e s c h e r fan d nun d u rch so rg fä ltig e W ägu n g en b e im L a ch s, d a ß in d er H u n g erp erio d e aus dem M u sk eleiw eiß , also aus P ro tein en , P ro tam in e d u rch U m fo rm u n g g e b ild e t w erd en . Ko s s e l s te llt sich den V o rg a n g so vo r, d a ß aus dem P ro tein m o lek ü l die M on oam in osäu ren h erau sgelö st w erden, ein V o rg a n g , d er le ic h t erk lä rlich ist, w enn w ir uns d as E iw e iß als eine M o lek ü lverb in d u n g vo rstellen . D a d u rc h w ird d as R e stm o le k ü l v e rh ä ltn ism ä ß ig
440 H e i d e r m a n n s : Die chemisch-anatomische Betrachtungsweise in der Zoologie. [" Die Natur- l_ Wissenschaften im m er reich er an D iam in osäu ren . D u rc h diesen
V o rg a n g s in k t sch ließ lich d er A n te il d er M on o
am in o säu ren v o n 74 % a u f io % des G e s a m ts tic k stoffs, u n d die u rsprü n glich en M u sk elp ro tein e h a b en d an n die Z u sa m m en setzu n g d er P ro ta m in e.
D ie P ro tam in e sind die w esen tlich e n ch em isch en B e sta n d te ile d er C h rom osom en . B e i d er o nto- gen etisch en E n tw ic k lu n g k ö n n en w ir uns e n tsp re chen de ch em isch e V o rg ä n g e in u m g ek eh rter R ic h tu n g vo rste llen , als v o rh e r b eim A b b a u d er M u sk u la tu r a u ftra te n .
D a b e i w ird au s den P ro tein en u n d R e s e r v e stoffen d e r E iz e lle , d u rch ü b erw ieg en d e A u fn a h m e und E in la g e ru n g v o n M on oam in osäuren , aus denen ja die ü b rig en P ro te in e vo rw ie ge n d b esteh en , das P ro ta m in fo rtsc h reiten d p ro tein isiert und so die E n tw ic k lu n g zu m O rgan ism u s in die W e g e g e leite t.
W ie d as im ein zeln en gesch ieh t, ob d as P r o te in m o lek ü l Z e llp ro d u k te v o n gleich er Z u sa m m en se tz u n g a b g ib t, die den G ru n d sto c k zu einem P ro te in m o le k ü l b ild en, od er ob a u f ein em and eren W e g e d ie U m fo rm u n g v o r sich geh t, m u ß d a h in g e s te llt bleib en .
D ie P ro ta m in e w ären d an n w o h l k o n stitu io n ell ein fac h e, ch em o d y n am isch e a b er h och steh en d e V erb in d u n g en in dem Sinne, d a ß sie G e sta ltu n g und A n la g e n v o m M u tter- a u f den T o ch tero rg an is- m us ü b e rtra g e n , w äh ren d die ü b rigen S to ffe V o r ra ts- o d er N ä h rsto ffe sind, m it denen sie sich im D ifferen zie ru n g sp ro ze ß b elad en , w ä h ren d in den U rge sch lec h tsze lle n ein T e il v o r d iesem P ro ze ß b e w a h rt b le ib t und als Ü b e rträ g e r fü r die sp ätere G en eratio n d ien t. E s lie g t n ah e an eine ch em isch e A u s w e rtu n g d er P ro te m e re n th e o rie He i d e n h e i n s
zu d en k en , d er allerd in gs zu r A u fs te llu n g sein er T h eo rie v o n rein m o rp h o lo gisch -h istolo g isch en G e sic h tsp u n k te n a u sg in g u n d sie b e g rü n d e te.
In d er G ru p p e d er V ita m in e fin d en w ir ein B e isp ie l d a fü r, d a ß ein chem isch es O rg a n im ch em isch -an ato m isch en Sin ne n ic h t e tw a s K o n sta n tes is t w ie ein biom o rp h o lo gisch es O rgan , sondern im R e a k tio n sg e trie b e e n ts te h t u n d v e r geh t, b a ld in diese, b a ld in jen e V e rb in d u n g sich u m w a n d elt. So g e h t n ach U n tersu ch u n g en v o n Ta k a h a s h i das V ita m in A in C h olesterin über, aus d em w ied eru m das V ita m in D e n tsteh t. D ie W irk u n g sw eise des V ita m in s A , w elch es a u f d as n orm ale W a c h stu m E in flu ß h a t, is t ein e and ere als d ie des V ita m in s D , d as fü r d ie K n o ch e n b ild u n g u n en tb eh rlich ist. D ie R e a k tio n sw e ise b eid er V ita m in e , die ch em isch -an ato m isch in gen etisch en B e zie h u n g e n zu ein an d er steh en , is t v o lls tä n d ig versch ied en und u n ab h än gig von ein an d er.
4. D a s biologische Geschehen im Lichte der chemo- dynam ischen A u ffa ssu n g.
E s lä ß t sich n ic h t leu gn en , d a ß d u rch die ch e
m isch e A n a ly s e des O rgan ism u s im ch em isch a n a tom isch en Sin ne ein tiefg eh en d er E in b lic k in d as bio ch em isch e G esch eh en gegeb en w ird . D u rch die e x a k te n M eth od en d er C h em ie, die hierb ei A n w en d u n g finden, g e w in n t m an b e stim m te re und
k la re re R e s u lta te als m it den n a tu rg e m ä ß m ehr ko m p lex e n und d a h e r u n e x a k te re n biologisch en M eth od en .
D ie b io lo gisch -m o rp h o lo gisch e A n a ly se b e ru h t a u f d er V e rw e n d u n g u n d d em V e rg le ich e n m o rp h o lo gisch er O rgan e u n d ih rer F u n k tio n e n m itein an d er. A b e r die chem isch - anatom ische A u f fassu n g b e h a u p te t, d a ß ihre E in h eite n , d ie ch e m i
sch en O rgan e, jen e bio lo gisch en O rgan e, w elch e die E in h eite n der b io m o rp h o lo gisch en D a rstellu n g sw eise sind, ja schon g e b ild et h ab en , d a ß sie in ih n en tä t ig sind u n d g a r n ic h t d u rch sie b e g re n z t w erd en ; d a ß jen e g a r n ich ts E in h eitlich e s d arstellen , son d ern v ie le F u n k tio n e n um fassen , ü b e rh a u p t e tw as S e k u n d ä re s sind.
In b io lo g isch - m o rp h o lo gisch er A u ffa ssu n g s p ric h t m an v o n Z ellen m it v ersch ied en en P o ten zen , s ie h t m an die Z elle als die E in h e it d er O rg a n b ild u n g an. In ch em isch -a n ato m isch er A u ffa s s u n g sind die in der Z elle b e fin d lich en u n d sie p assieren d en S to ffe als d as fü r die L eb e n s V orgänge W esen tlic h e zu b e tra c h ten . D ie Z elle is t h ier in erster L in ie v ie lfa c h n u r R a u m b e g re n zu n g fü r den A b la u f b e s tim m te r R e a k tio n e n . A u c h die m o rp h o lo gisch ch a ra k te risie rte n E in sch lü sse w ie K e rn , C h ro m atin , C en tro so m usw . sind in diesem Sinne zu d eu ten . D ie Z elle is t n ich ts S ta rre s m ehr, sie ist, w ie das schon frü h er v ie le P h y sio lo g e n au sgesp roch en h ab en , ein T u m m e lp la tz p h y sik a lisc h e r u n d ch em isch er K r ä fte , ein W ir b e l des G esch ehens, in d em S to ffe h ier ein und d o rt a u strete n , h ier z e r se tz t u n d d o rt a b g e b a u t w erd en , lan ge R e a k tio n s k e tte n a b lau fe n und a u ch b ei s ta tio n ä re n S y stem e n k ein en A u g e n b lic k R u h e h e rrsch t. N o rm ale r A b la u f a ll dieser R e a k tio n e n b e d in g t die n orm ale E n tw ic k lu n g des O rgan ism u s. E in irg en d w ie en tstan d en e r a n o m aler R e a k tio n s v e rla u f an irg en d ein er S telle e rg ib t a ty p is c h e S to ffe , die v ie lle ic h t b e lan glo s fü r den n orm a len E n tw ic k lu n g sg a n g sind, v ie lle ic h t so g iftig w irk e n , d a ß sie den gan zen E n tw ic k lu n g s p ro zeß sistieren, vie lle ic h t a b er den E in flu ß h aben , d a ß sie ih m im gan zen od er ein zeln en sein er T eile ein en a n d e rsa rtig e n E n tw ic k lu n g sw e g a u f zw in gen . E in e ge rin g fü g ig e Ä n d e ru n g , e tw a die U m w a n d lu n g ein er Cis- in eine T r ans V erb in d u n g an ein em G lied, k a n n u n ü b erseh b are W ir k u n g fü r den A b la u f der K e tte n r e a k tio n h aben .
D a s b e d eu te t, d a ß eine geringfügige Ä nderu ng an ein em ch em isch en O rg a n zu einem g a n z s ta r k a b g eä n d erten b iom orp h ologisch en O rgan fü h ren kan n , od er große Änderungen sich b io m o rp h o lo gisch g a r n ic h t b em erk b a r zu m ach en b rau ch en .
E s b iete t, w en n m an an das R e a k tio n sg e trieb e in den Z ellen d e n k t, g a r keine D e n k sch w ierig k e ite n , an zu n eh m en , d a ß d e ra rtig e anom ale R e a k tio n e n seh r h ä u fig V orkom m en, a b er m e ist d u rch den in den A n la g e n des o rgan isierten S y stem s fe st v e r a n k erte n E n tw ic k lu n g sg a n g — m an d en k e an die vielen , d em O rgan ism u s zu r V e rfü g u n g steh en d en R e g u la tio n sw eg e — w ied er b e se itig t w erd en und n u r in ve rh ä ltn ism ä ß ig w en igen F ä lle n zu r m o rp h o logisch en A u s w irk u n g gelan gen .
Heit 24. 1 H e i d e r m a n n s : Die chemisch-anatomische Betrachtungsweise in der Zoologie.
14 .6 . 1929J 441
W ir d ü rfen fern e r ve rm u ten , d a ß n ah e v e rw a n d te O rgan ism en einen äh n lich en R e a k tio n s v e rla u f b e sitzen u n d d ieser u m so u n äh n lich er w ird, je w eiter die o rg an isierten S y stem e gen etisch au sein an d er
stehen.
B e i ch em isch -an ato m isch er B e trac h tu n g sw e ise sind d ie biom orp h ologisch en O rgan e au s den chem ischen O rgan en g eb ild et. W en n b e i diesen nun U n reg e lm ä ß ig k eiten V orkom m en, so m u ß w en igsten s hin und w ieder, w o ra u f eben hingew iesen, dies a u ch zu r b iom orp h ologisch en A u sw irk u n g gelangen. U n d w irk lic h g ib t es E rsch ein u n gen , die sich so d eu ten lassen.
W erd en leb en sw ich tige O rgan e v o n solchen Ä n d eru n gen b e tro ffe n und d a d u rch ihre F u n k tio n g estört, so m uß n a tü rlic h d er gan ze O rgan ism u s zu gru n d e gehen, und d as M an ifestw erd en der Ä n d eru n g is t n ic h t zu sch auen. M an is t v e rsu ch t, d aran zu d enken , d a ß d er L e th a lfa k to r b ei vielen K reu zu n g e n — b ei denen ja leic h t a ty p isc h e R e ak tio n en a u ftre te n kön nen — a u f solche S tö rungen zu rü ck zu fü h ren ist.
L eb e n su n w ic h tig e O rg a n g e sta ltu n g kan n sich dagegen in a ty p is c h e r F o rm g e sta ltu n g au sbild en , ohne den B e sta n d des o rg an isierten S y stem s zu gefäh rden.
So find en w ir ü b e ra ll b ei den In sek ten , d a ß die A n ten n en d ie T rä g e r d er G eru ch so rgan e sind.
B e i einer F a m ilie d er C o leop teren d agegen b efin d en sich die G eru ch so rgan e am zw e ite n G lied d er M axil- la rtaster. E in e ein zige A r t d ieser F a m ilie a b er h a t sie w ieder an den A n ten n en . C h em isch -an ato m isch können w ir uns vo rste llen , d a ß die Ä n d e ru n g des R eak tio n sm ech an ism u s, die diese C oleop teren - fam ilie c h a ra k te risiert, die V erla g e ru n g d er G e
ru ch szellen irg en d w ie m itb ed in g t. D a n atu rg e m äß jed e A r t d ieser F a m ilie eine e tw a s vo n ein a n d er a b w eichende R e ak tio n sn o rm b e sitzt, so is t es der einen A r t gelun gen, die fü r die In sek ten a ty p isc h e V erla g eru n g au szu sch alten , so d a ß die n orm ale A u s b ild u n g b ei ih r als ein ziger A r t in d er gan zen F am ilie w ied er v o r ko m m t. So lassen sich zah lreich e B eisp iele finden , u n d ihre Z a h l w ird n och steigen, w enn m an a n fä n g t, s y ste m a tisc h a u f solche V e r sch ied en h eiten zu a ch ten .
A u f n och etw a s and eres sei in d iesem Z u sam m en hän ge h in gew iesen . B e i biom o rp h o lo gisch er B e tra ch tu n g sw eise fassen w ir den A u sb ild u n gsg rad eines O rgan s, gem essen sow o h l an G e sta ltu n g w ie an F u n k tio n s tü c h tig k e it, als A u s d ru c k ein er z e it
lichen E n tw ic k lu n g sfo lg e au f, in dem Sinne, d a ß w ir en tw ed er v o n ein em in d er E n tw ic k lu n g b e griffenen O rgan sprechen, od er v o n einem in R ü c k b ild u n g steh en den , und den G ra d d er E n tw ic k lu n g od er R ü c k b ild u n g als einen Z eitm esser dieses V o rg an g es ansehen. D iese A u ffa ssu n g is t in vielen F ällen so b eg rü n d et, d a ß an ih r n ic h t gez w eif eit w erden kan n .
A lle in die ch em isch -an ato m isch e A u ffa ssu n g d er L eb e n svo rg ä n g e le g t nahe, d a ß dies n ich t die ein zig m öglich e E rk lä r u n g sein kan n . D ie V e r
sch ie d en a rtigk e it d er A u sb ild u n g sfo rm eines O rgan s
kan n eb en so g u t e in fach d er A u s d ru c k des b e i d er O rg a n b ild u n g s ta tth a b e n d e n R eak tio n sg esch eh en s sein, das bei den einen A rte n ein er G ru p p e zu g u ter, bei d er anderen zu w en iger g u te r F o rm g e sta ltu n g fü h rt od er sie ü b e rh a u p t u n terd rü ck t.
D a s s c h lie ß t n a tü rlic h n ic h t aus, d a ß a u ch ein zeitlich es N ach ein an d er in der F o rm g e sta ltu n g eines O rgan s b e ste h t; denn zu allen Z e ite n h a t das gleich e G esch eh en stattg e fu n d e n , und sind in fo lg e dessen au ch A b än d eru n g e n in zeitlich e r F o lg e a u f d er G ru n d la g e d er g leich zeitigen V ersch ie d en h eiten en tstan d en . W elch e v o n b eid en M ö g lich k e iten im ein zeln en F a lle z u trifft, m u ß dann G egen stan d b eso n d erer Ü b erlegu n g en sein.
D a ß w irld ich n ic h t im m er red u zierte A u sb ild u n g eines O rgan s im Sinne d er biom orph ologisch en A u ffa ssu n g g e d e u tet w erd en kann, d a ra u f w eist das geleg en tlich e A u ftr e te n an S tellen des K ö rp e rs hin, an denen n iem als b ei V o rfa h re n das b etreffen d e O rgan in fu n k tio n sfäh ig e m Z u stan d e zu r E n t fa ltu n g geko m m en sein kan n . B eisp iele h ierfü r sind d as geleg en tlich e A u ftr e te n v o n M ilchd rüsen an den B ein en b ei Säu gern .
A u c h die V ie lw e g ig k e it des chem ischen G e
schehens im O rgan ism u s lä ß t sich gerad e h ier in m anch en F ä lle n n ach w eisen. B e i vie len In sek ten find en w ir eine R ü c k b ild u n g d er F lü g e l. M eist sind die re d u zierten F lü g e l kein S p ieg elb ild der n orm alen , so z. B . b ei den C arab id en , w o h l ab er is t dies b ei den D e ro crep is-A rten d er F a ll. Im ersten F a lle finden sich im A p ik a lte il d er F lü g e l
ru d im en te d u n kle A b b a u p ro d u k te ein g elag ert.
E s h e g t nah e, h ierin das E n d p ro d u k t an d ers
g e leite te r R e a k tio n en zu sehen, die n orm alerw eise zu r A u sb ild u n g d er F lü g e l ged ien t h ä tte n .
M an sp rich t h ä u fig vo n T en d enzen , die in b estim m ten O rgan ism en gru p pen in irgen d ein er B e zie h u n g zu tag e tre ten . So kenn en w ir A rte n od er G attu n g e n , die die T en d en z b esitzen , h ä u fig M u ta tio n en aus sich h e rv o rg eh e n zu lassen, w äh ren d an d ere sich als ä u ß e rst k o n s ta n t erw eisen . E s tre ten in solchen G ru p p en , in denen eine solche T en d en z vo rh a n d en ist, sehr h ä u fig h o m ologe R e ih e n v o n M u tatio n en au f. D ieselb e M u ta tio n , d ie b ei ein er A r t v o rk o m m t, t r i t t a u ffa llen d h ä u fig in d u rch a u s h om ologer W eise a u c h b e i and eren, n ah e ve rw a n d te n A rte n auf.
D ies m a g b ei b io m o rp h o lo gisch er B e tr a c h tu n gsw eise eig en a rtig erscheinen, b e i ch em isch an atom isch er is t es d em V ersteh e n n äh er g e rü ck t.
In diesem Sinne is t u n ter T en d e n z n ich ts anderes zu versteh en , als d a ß in ein em p ro to p la sm atisch en S y ste m gü n stig e B e d in g u n gen fü r d as E in tre te n b estim m te r R e a k tio n e n gegeben sind, die zu diesem biom orp h ologisch en E n d e ffe k t fü h ren , in dem einen m ehr, in d em än d ern w eniger. So ersch ein t es in d ieser A u ffa ssu n g verstä n d lich , d aß h om ologe R eih en v o n M u ta tio n en in n ah e v e rw a n d te n G ru p p en zu m D u rch b ru ch kom m en.
A u s allen G eb ieten ließ en sich so n och z a h l
reich e B eisp iele anfü h ren. N u r a u f eines sei n och hin g e w ie se n : D ie F o lgen d e r chem isch -an atom isch en
442 Zuschriften. T Die Natur- Lwissenschaften B e tra c h tu n g sw e ise in ih rer le tz te n K o n se q u e n z, die
uns g le ich zeitig a u ch ihre S ch w ie rig k eite n en th ü llen . W e n n w irk lic h das W ech selsp iel d er ein zeln en S to ffe d ie w esen tlich e G ru n d la ge zu r A u s g e sta ltu n g d er O rgan e u n d des g a n zen O rgan ism u s ist, w en n g erin gfü g ige Ä n d eru n g en in d er K o n stitu tio n od er K o n fig u ra tio n ein er ein zeln en solch en V erb in d u n g fü r die e n d g ü ltig e O rg a n g e sta ltu n g gro ß en E in flu ß h ab en kan n , so d a ß zw isch en d em G ra d d er V e r än d eru n g an d em ch em isch en O rga n u n d d er A u s g e sta ltu n g des m o rp h o lo gisch en O rgan s k ein e B e zieh u n g en zu fin d en sind , d an n ka n n äh n lich e b io m orp h o lo gisch e G e s ta ltu n g a u ch k ein zu v e rlä ssig er M a ß sta b d e r g en etisch en B e zie h u n g e n d er O rg a n is
m en zu ein a n d er sein.
E s e rg ä b en sich d an n g ro ß e S ch w ie rig k eite n fü r die G ü ltig k e it ein er u n serer a m stä rk ste n b e g rü n d eten L eh re, d er D eszen d en zleh re, n ich t, a ls o b d ie T a ts a c h e d e r D eszen d en z in F ra g e g e s te llt w äre, sond ern in d em Sinne, d a ß die W eg e, d ie die E n tw ic k lu n g ein gesch lagen h a t, and ere gew esen sind , als w ir sie uns j e t z t v o r stellen .
S olch e S ch w ie rig k eite n , die sich a u ch au s anderen G eb ie ten h erau s n och verm eh ren ließ en , m ah n en in d e r A n w e n d u n g ch em isch -a n ato m isch er B e
tra c h tu n g sw e ise z u r V o rsic h t, z u m a l es sch w er fä llt, v ie lfa c h b e s tä tig te V o rstellu n g en a u fzu geb e n .
R o u x w e is t d a ra u f hin, u n d v ie le v o r u n d n ach ih m h a b en es au sgesp roch en , d a ß in den chem isch en P ro zessen d as H a u p tp ro b le m d er B io lo g ie ru h t.
D ies is t n a tü rlic h eine H y p o th e se u n d soll a u ch g a r n ich ts an d eres sein. A b e r w eil u n s tre itig den ch em isch en V o rg ä n g e n im O rgan ism u s eine h oh e B e d e u tu n g fü r d ie L e b e n sv o rg ä n g e z u k o m m t, is t es re izv o ll, ein e e x tre m chem isch e A u ffa s s u n g zu b e le u ch te n u n d a u f ih re V o rte ile u n d S ch w ie rig k e ite n ein zu geh en .
B e s te h t sie w irk lic h zu R e c h t, so k o m m t d er b io ch em isch en A rb e itsw eise eine g a n z and ere R a n g s tu fe zu als den bio lo gisch en D iszip lin en , d a d eren A rb e itsg e b ie te d an n n u r als F o lg e zu stä n d e des C h em ism us d er o rg an isierten S u b sta n z a n zu seh en w ären , also als etw a s S ek u n d ä res geg en ü b e r den p rim ären p h y sik a lisch en u n d b io ch em i
schen V o rg än g e n .
E rw e is t sie sich in dieser B e zie h u n g als u n h a lt
b ar, so w ird sie sich erlich d u rch die ih r e ig en tü m lich e e x a k te A r t ih rer M e th o d ik fü r d ie K lä ru n g v ie le r L eb en sp ro zesse v o n au ssch lag geb en d er B e d e u tu n g sein.
Z u sch riften .
D er Herausgeber bittet, i . im M anuskript der Zuschriften oder in einem Begleitschreiben die N otw endigkeit einer raschen Veröffentlichung an dieser Stelle zu begründen, 2. die Mitteilungen auf einen Um fang von höchstens einer D ruckspalte zu beschränken. B ei längeren M itteilungen muß der Verfasser m it Ablehnung oder m it Veröffent
lichung nach längerer Zeit rechnen.
Fü r die Zuschriften hält sich der Herausgeber nicht für verantwortlich.
Über den a k tiven S tick sto ff.
B ei dem Interesse, das z. Zt. für die Frage nach der N atu r des aktiven Stickstoffs besteht, erscheint uns eine vorläufige M itteilung unserer Versuche an dieser Stelle wünschenswert.
M it einer neuen spektroskopischen Methode zum Nachweis von instabilen Zwischenprodukten in reagie
renden Gasen (elektrodenlose, hochfrequente Schwin
gungsentladungen) ist es uns kürzlich gelungen1, im aktiven Stickstoff außerhalb der erzeugenden E n t
ladung die Bogenlinien des Stickstoffatom s nachzuweisen und dam it die Gegenwart von Stickstoffatom en im aktiven Stickstoff sicherzustellen. Die weitere U nter
suchung m it dieser Methode und ein genaueres Studium der Erzeugungsbedingungen von aktivem Stickstoff führte uns zu folgenden Ergebnissen:
1. Dem bekannten Auslöschen oder Abschwächen des Nachleuchtens durch eine schwache Entladung geht parallel eine Abnahm e der Intensität der Atomlinien, also der Atom konzentration.
2. Gelingt es, durch geeignete Entladungsbedingun
gen, aktiven Stickstoff herzustellen, der als energie
reiches Produkt im wesentlichen nur metastabile Moleküle von 8 V o lt enthält; als Kriterium für das Vorhandensein dieser Moleküle gilt nach Ka p l a n2 die Verstärkung der 4. pos. Gruppe in der H ilfsent
ladung. Dieser aktive Stickstoff leuchtet kaum merk
lich nach.
3. B ei Versuchen m it in der oben erwähnten Arbeit beschriebenen Anregungsbedingungen, die inzwischen
1 Z. B a y und W. S t e i n e r , Z. physik. Chem. [ B ] 3 ,149, ( 1 9 2 9 ) .
2 J. Ka p l a n, Physic. R ev. 33, 189 (1929).
weiter fortgesetzt wurden, erhält man aktiven Stickstoff, der als aktives Produkt im wesentlichen nur Atom e enthält und ein kräftiges Nachleuchten zeigt. Das Spektrum der erzeugenden Entladung besteht haupt
sächlich aus Atomlinien, die Banden treten fast völlig zurück.
Aus diesen Versuchsergebnissen folgt:
A ktiver Stickstoff ist, ganz abgesehen von der stets komplizierenden W andbeschaffenheit, nicht definiert, solange nicht die A rt seiner Erzeugungsbedingungen genau angegeben wird. E r ist im allgemeinen ein Gemisch von gewöhnlichen und m etastabilen (8 Volt) Stickstoffm olekülen und gewöhnlichen und m eta
stabilen (2 ,3 7 und 3 ,5 6 Volt) Stickstoffatom en und seine Eigenschaften sind durch das Mischungsver
hältnis bedingt. Für das Nachleuchten ist die A n
wesenheit von Atom en erforderlich.
Eine ausführliche Darstellung und Begründung unserer R esultate erscheint demnächst an anderer Stelle.
Berlin, Physikalisch-chem isches Institut der Uni
versität, den 10. Mai 19 2 9 .
Zo l t a n Ba y und We r n e r St e i n e r
B em erkun g zu unserer Arbeit
„Ü b e r den S ta rk effek t II. O rdnung bei der Balm erserie des W assersto ffs“ .
In dieser A rb eit1 (s. auch die vorläufige Mitteilung in den Naturwissenschaften2) hatten wir den Stark
1 H. Ra u s c h v. Tr a u b e n b e r g und R . Ge b a u e r, Z . P h ysik 54, 3 0 7 ( 1 9 2 9 . )
2 H. Ra u s c h v o n Tr a u b e n b e r g, Naturwiss. 16, 6 5 5 - 6 5 6 ( 1 9 2 8 ) .
