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Die Zukunft, 26. März, Jahrg. XXIX, Bd. 112, Nr 26.

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(1)

X X IX . Jahrg. Berlin, den 26. März 1921 Nr. 26

i e ukunft

Herausgeber

Maximilian Harden

IN HA LT

Seite

M it neuen Z u n g e n ... . . 367

Im V o r h o f ... 367

Ein Schauspiel n u r ... ... 372

Ist Euch der M eister n a h ? ... 385

N achdruck verboten

E r s c h e in t j e d e n S o n n a b e n d

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BERLIN

V erlag der Z u k u n ft

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Berlin, den 20. März 1921

Mit neuen Zungen

Im V o r h o f

T ^arrabbas soll frei sein! Jesus Barrabbas!“

„Frei? W arum den n? D er D ieb ?“

„W as D u redestl D er und stehlen! W egen M ordes hat die reiche Bande ihn angeklagt. W eil er fürs Volk ist, immer vornan, wenns um unsere Sache geht. D aß von uns Sechs erstochen waren, zählt nicht. D aß drüben Einer fiel, soll Barrabbas büßen. Deshalb ist er eingelocht. Verstehst D u ? “

„W enns so ist! Alles für das Volk! W ir dulden nicht länger, daß uns die Besten genommen werden. Sofort muß»

Barrabbas aus dem Loch. Sperr die O hren auf, D u da oben!

Das Volk verlangt, daß D u Jesum Barrabbam noch heute aus dem Kerker entlassest. Still doch: sonst hört ers ja nicht!“

Pontius, der, zu Erinnerung an einen dem A hn verliehenen Ehrenspeer, den Beinamen Pilatus trägt, hört n ur ein Stim«

mengeschwirr. A uf dem Elphenbeinstuhl des Richters sitzt er, in derG abbatha des alten Herodierpalastes, dem mit Stein«

platten belegten, von hellenisirenden Römern drum Litho«

strotos genannten V orhof des Prätoriums. Hellas und Rom:

wie weitab ist man hier von dieser W elt eleganter Seelen! Im Exil. U nter Tollhäuslern. N ie,d en k t der ins Getümmel Herab#

blickende, komm t dieses Gesindel in Ruhe. Zwei D utzend Sekten hat das Volk schon; u n d immer wieder klüngelt sicftg

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irgendwo zusammen. Gestern in Samaria, heute in Galilaea.

A n jeder Straßenecke stößt man auf ein streitendes Grüpp*

chen. Das fuchtelt mit verrenkten Armen durch die Luft, spricht mit H änden, Schultern, mit allen G liedern und rauft, wenn der Schimpfredestrom stockt, dem G egner die Bait*

haare aus. Lallt in Hungersparoxysm en gar Einer W orte prophetischen W ahnes, dann zerreißen Zwei, Drei ihre schmie*

rigen Kleider, schlagen die Brust, wälzen sich auf der Erde, verwünschen sich selbst, ihre Kinder und ihrer K inder Samen.

So fand sie Coponius, Caesars Statthalter, und ganz so sind sie noch unter Tiberius. D er D rang in Ueberhebung, der die H öhe des Sternenhimmels nicht scheut, lebt in den vom Schwert U nterworfenen fort. Alles wcfllen sie besser wissen als andere M enschen, halten sich für das Salz der Erde und erdreisten sich in die Forderung, daß ihrem asiatischen Aber*

glauben die Röm erkultur sich anpasse. W eil Moses allen Bilderkult verpönt, durften die aus Caesarea ins Winter*

quartier heimkehrenden Truppen nicht den Adlerspeer mit dem Bilde des Kaisers durch das Judäerland tragen. W eil an dem Tag, da jeder H ausvater in Israel das einjährige Lamm für das Passahmahl bereitet, ihr Fuß nicht die Schwelle Un*

reiner betreten darf, m uß der Statthalter des Tiberius A ugustus unter offenem Himmel ihre Beschwerde hören. Das „fius«

erwählte V olk“ schreibt dem Erdbeherrscher die H altung vor.

Von irgendwelchem Ereigniß dieser A rt das H irn er­

hitzen zu lassen, wäre des Philosophen unw ürdig. Am Ende m ußte der Prokurator ja doch nachgeben. D ie Wappen*

schilde, weil sie der Heiligen M auer zu nah waren, von seiner Residenz abnehmen; die Erdarbeit einstellen, die aus einer zweihundert Stadien hinter der H auptstadt fließenden Quelle reines W asser nach Jerusalem leiten sollte. Damals hatte er, den beginnenden A ufruhr zu bändigen, Kolonialkriegsknechte in Judenkleider gesteckt, statt scharfer W affen ihnen Knittel gegeben und die Einkreisung der U nruhestifter befohlen. D aß seine Leute dann, sich andrängender Schmäher zu erwehren, ihre Stöcke gebraucht hatten und B lut geflossen war, w urde ihm zuerst von dem syrischen Prokonsul Vitellius, dann in Rom arg verdacht. D as darf nie wieder werden. M ag dieses bis

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Mi t n e u e n Z u n g e n 3 6 9

in Tobsucht überreizte Orientalenpack seine Suppen selbst kochen und allein auslöffeln. Immer glaubt es sich von tück- ischer Feindschaft bedroht, von V erführung umzüngelt. W er auch nur fragt, ob Erinnerung noch jeden Buchstaben des Sinaigesetzes richtig bewahre, gilt als Feind des Volkes. D er neue „M esith“, den sie heute herschleppten, sieht wahrlich nicht wie ein H etzer aus. Ruhig schaut er, mit der Zuver­

sicht getroster U nschuld, um sich; und im Verhör fand Pontius kein Fäserchen von Schuld an ihm. A ber sie kreischen, er heiße sich den König der Juden, kleinere also den M ach t­

bereich des Kaisers, dessen Imperium er die Steuer weigere, und lasse sich als den aus G ottes Samen Ersprossenen preisen.

D er Sanhedrin hat ihn zum T od verurtheilt. D a der H an d­

werkerssohn aus Galilaea nicht römischer Bürger ist, w ürde der Spruch, wenn er vom Prokurator bestätigt wäre, in Rechts­

kraft reifen. W ieder Einer, den Priesterneid ins Verderben stößt. U nd dieses N eides Trachten soll Pontius begünstigen?

Ein Ausweg scheint sich seinem Auge zu öffnen. N ach altem Brauch, ruft er, wird am Tag vor dem Passahfest immer ein Gefangener begnadigt; wollt Ihr, so lasse ich den König der Juden (Jesus heißt er ja w ohl?) frei. Schweigen. V o rd em bitteren Entschluß, G nade zu weigern, schwanken die härtesten Herzen. Sekunden lang. Schon aber hat ein schlauer Priester einen anderen N am en getuschelt. D er fliegt von M und zu M und; und über den H o f hin heult nun der Schrei: „Bar- rabbas ist unser M ann! G ieb uns Jesum Barrabbam! N ich t dem Galiläer, der den Kaiser schmähte, ziemt Feiertagsgnade!“

D er den Kaiser schmähte: an den H aken dieser Beschul?

digung hätte man den Statthalter gehenkt, in dessen morschem W illen noch für das kürzeste Zaudern Raum geblieben wäre.

A n unerwiesene, wahrscheinlich grundlose Beschuldigung.Nie hat Rabbi Jesus den Kaiser gekränkt, niemals selbst sich König der Ju den genannt. D och die Priester sagen, das Volk glaubt»

daß ers that. U nd den Vertreter römischer Rechtshoheit, der diesen W icht der Strafe entzöge, fände der H o f des Tibe- rius mindestens lau oder ziehe ihn gar des Frevels an Majestät.

„Er giebt sich für einen K önig aus, ist also wider den Kaiser;

wer ihn begnadigt, ist dem Kaiser kein treuer D iener.“ V on

26*

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Erzfeinden der Römerherrschaft kommt solches Gewisper.

A us der M enge das W uthgeheul: „Ans Kreuz den G auner!“

So habe die Judenheit denn ihren W illen. Sie will den Spalter des Kirchendogmas, den Brecher der G laubenssatzung ver»

nichten; doch die Last der Verantwortlichkeit auf A ndere ab- schieben. D as mosaische Gesetz hat Jesum verdammt, der Sanhedrin ihm das U rtheil gesprochen. D anach m üßte er gesteinigt werden. Sie aber schreien: „Kreuziget ih n !“ W eil Kreuzigung eine Römerstrafe ist und ihre Vollstreckung die Lüge nährt, Jesus sei, als Befehder des Imperiums, von dem Pilatus im N am en des Kaisers gerichtet, getötet worden.

Bis in die Zeit, da Tacitus seine Annalen schrieb, hat die Lüge fortgewirkt. Flaviusjosephus (oder der Flickschuster, der dem Achtzehnten Buch der Judengeschichte die Sätze über Leben und T od Jesu aufpfriemte) giebt wenigstens zu, d aß „die Vornehmsten unseres Volkes von Pontius die Ver*

urtheilung erlangten“. Rom war an diesem Verbrechen u n ­ schuldig. D ieM asse des jüdischen Volkes belogen und aufge­

hetzt. D ie ganze W uch t der Verantwortunglast liegt auf der schmalen Oberschicht. A u f denRegirern des Judengeistes. U m sich im D rang nur behaupten, gar die feindliche W elt über­

wachsen zu können, verrammelten sie sich in das eherne Gesetz, das schon denVersuch, einSpältchen in den überlieferten Kult zu sprengen und den W ust zu lüften, mit T od bedräute. D er junge Rabbi Jesus wollte völligen W andel des Kultes: und m ußte drum sterben. U nter jedem Himmel gilt solches Rache- rechtD enen alsN othw endigkeit, die,in H arnisch oder weitem Priestersgewand, sich immer im Krieg fühlen u nd deshalb das in Kriegsgefahr U nentbehrliche in alle Provinzen ihres W ollens und H andelns übertragen. D aß in Jerusalem diese militarisirten Seelen die M acht zu H ehlung und A bwälzung ihrer Schuld hatten, ward Israel zu U nheil. D ie römischen Kriegsknechte, billige Kolonialwaare, trieben es schlimm;

putzten den ihrer G ew alt Ausgelieferten mit zerschlissenen Purpurfetzen, stülpten ihm eine spitzige D ornenkrone auf die bleiche Stirn, klemmten ein Rohr, als des Königsszepters Spottbild, zwischen seine Finger, höhnten und striemten mit derbsträhniger W ortpeitsche roh den G eduldigen. Auch gegen

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Mit n e u en Z u n g e n 3 7 1

Roms Exportsittlichkeit und Kulturbringergeheuchel ließ wohl mancherlei Gewichtiges sich sagen. D aß aber zwischen zwei Schächern der Reinste amKreuz hing, war das W erk der H äupter von Judaea, die nicht der kecke Demagoge und Putscher, nur der Stifter neuen G eistesbundes gefährlich dünkte. Sie hinderten, daß ein tapfer W ahrhaftiger aus der Einheitfront springe und rufe: „D ie alten M achthaber, deren H errschaft nicht fortwähren darf, thatens und wir, das getäuschte Volk, haben an ihrer T hat nicht den winzigsten Theil.“ Das konnte der nationalen Sache schaden. N icht nur den dieser Sache Ver­

mählten,von ihrer M itgift Z ehrenden? In den Talm ud durfte der Gelehrte schreiben, Jesus sei als vom G lauben A btrünniger gesteinigt, danach gehenkt worden. Zunächst war aber die Lo­

sung bequemer: „W egenM ajestätverbrechens zu der schmäh­

lichsten Strafe verurtheilt, die das Römerrecht kennt.“ D och der Patriotenversuch, dem Fremdling die Schuldbürde aufz,u- Iaden.ist nicht gelungen;hat nur erw irkt,daß dieganzejuden*

heit, nicht H anans Sippe, für deren H andeln kein Gerechter das V olk haftbar machen konnte, der M itschuld, M it wissen­

schaft wenigstens geziehen wurde. N och Renans sanfte W eis­

heit grollt leis: „W ar je ein Verbrechen das einer N ation, so wars die H inrichtung Jesu.“ U nd wo, in bald zwei Jahr*

tausenden, ein Jude auffällig von der Umwelt sich abhob, da spritzte aus uraltem G eraun der ächtende W arn ru f: „H ü ­ tet Euch! Sie haben den Friedensfürsten gem ordet und dann gelogen, er sei das Opfer caesarischer Strenge geworden. Keiner traue jemals dem pfiffigen T rügervolkl“ Dem, sagt Ihr, war nicht nur Jesus selbst, war auch ein Gewimmel Kleiner, in W esensenge Sauberer vom Schlag des Kyrenaikers Simon zu­

gehörig, der ohne M urren das Kreuz auf sich nahm ? Ju den­

mär; dieser Simon war ein libyscher Bauer und gewiß nicht den in Zions Tempel Thronenden unterthan. Sems echter Sohn aber der Schuster, der den am Fuß des Schädelberges rasten1*

den H eiland mit dem Leisten wegscheuchte und.dieses schnöde T hun abzubüßen, ruhelos wandern m uß, bis der aus Arima- thias G rüftgew ölb erstandene, in des Vaters Himmel aufge­

fahrene Christus wieder die Menschenerde betritt.

„N icht an meinen Fingern klebt das Blut dieses Gerechten.“

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Dem W o rt des Pontius hallt derVehmspruch nach: Die N atur listig meistern, den G eist knechten wollten, haben den W ipfel, die Krone der M enschheit gebrochen und in der Sucht nach H ehlung des Kastenverbrechens den ganzen Stamm mit Ver*

dachtsschmach besudelt. Aus langer N acht steigt Zion in Helle, die der Erbe des Römerimperiums ihm gönnt. Dem Ewigen Ju#

den aber folgt, dem Ruhlosen ruhlos, der Anklägerschwarm.

E in S c h a u s p ie l n u r

M ondschein. U ngeduldig erharrte Hochzeitnacht. Musik.

D rei Paare. Thisbe wird angerufen. W ie im Sommernachts*

träum . „Z u Bett, Verliebte 1“ Die H errin von Belmont könnte die M ahnung des Athenerherzogs wiederholen. U nd wieder ist die Waffe der V ernunft stumpf, ist U nnatur wehrlos ge#

worden. H ier aber sind wir in Menschenland. Keines Elfen#

beinchens Trippeln wird hörbar. Ein Schwarzalb nur schlich umher und bedrohte m it dem G espinnst seiner Rachsucht den ernsten N ährer lüdrianisch genießenderjugend. Oberons W eltordnung ward durch den Inderknaben, auch A ntonios durch einen Fremdling gestört: durch Scheilock (Shylock?

M üssen wir eines venetischen Juden Nam en für deutsche A ugen schreiben, wie einBrite ihn für britische A ugen schrieb?).

Erst wenn der Eindringling abgewehrt, in O hnm acht geduckt ist, kehrt der Segen spendende Friede zurück. Blinkt Lunas G lanz nicht mehr von Thränen. D rückt N atu r wieder ihre K inder zärtlich ans Herz. Klingt aus dem Himmel, der Wiese, dem Brautbett, der Gerichtsstätte sogar wieder M usik. G rü ß t G lockenton fromm die Sonne. Sank Ahasver ins G rab ?

„D er Ju d e von Venedig war die erste H eldenrolle, die ich Edm und Kean spielen sah. Ich sage: H eldenrolle; denn er spielte ihn nicht als einen gebrochenen alten M ann, als eine A rt Schewa des Hasses, wie unser D evrient that, son*

dern als einen H elden. So steht er noch immer in meinem G edächtniß, angethan mit seinem schwarzseidenen Rockelor, der ohne Aermel ist und nur bis ans Knie reicht, so daß das blutrothe U ntergewand, welches bis zu den Füßen hinab*

fällt, desto greller hervortritt. Ein schwarzer, breiträndiger, aber zu beiden Seiten aufgekrempter Filzhut, der hohe Kegel

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M i t n e u e n Z u n g c u 3 7 3

mit einem blutrothen Band um wunden, bedeckt das H aupt, dessen Haare, so wie auch die des Bartes, lang und pecn«

schwarz herabhängen und gleichsam einen wüsten Rahmen bilden zu dem gesund rothen Gesicht, worin zwei weiße, lechzende Augäpfel schauerlich beängstigend hervorlauern.**

D as sind die Hauptsätze aus Heines Darstellung, nach der Keans Scheilock der H eld des Dramas war. Kein lichter H eld freilich, dem die H erzen zufliegen, doch einer, der für sein Recht und das seines Stammes käm pft und deshalb unser M itleid verdient, wenn er der Uebermacht erliegt. Auch in Deutschland hat diese Auffassung der Rolle sich früh durchgesetzt. N icht jeder Mime konnte den Juden so jung und von Kraft strotzend spielen wie Kean. Alle aber haben sich; seit D örings Tagen, gehütet, ihn dem H ohn auszu»

liefern, Alle ihn als M ärtyrer unserem Menschengefühl emp«

fohlen. N u r M itterwurzer, der immer von der Heerstraße wich, gab ihn als komisches Fabelscheusal: und blieb ohne rechte W irkung. Die G estalt schien nicht mehr zu ändern, Israels Prozeß gegen die Christenheit. D as Drama des Rassen­

kampfes. N eben den M ohren trat der Jud e von Venedig.

Beide sind Fremdlinge, sind, gehaßt, um Rang und G eld beneidet; Beide werden nach kurzer H errlichkeit von ihrer H ohe gestürzt. (Von ihrer H öhe: Othello ist General*Statt#

halter und Scheilock kann von sich sagen, A ntonio habe ihtn

„eine halbe M illion gehindert“, m uß also ein für die Be*

griffe seiner Zeit großes Vermögen haben.) Für Schwarze und Beschnittene ist in der Republik Venedig kein Raum.

D er Scheilock des H errn von Possart war in Ton un d Ge#

berde von düsterer M ajestät; halb Prophet, halb jüdischer Lear. D er des Rossischülers N ovelli ein tausendfach ent*

täuschter Ehrenmann, den nur die auf seinen Stamm gehäufte Schmach zu blutiger Rache treibt und dessen Kinderglaube zuversichtlich auf die unbeugsame Kraft venezianischer Ge«

setze hofft, der leggi, die ihn so lange drückten und die endlich nun einmal, endlich für ihn sprechen müssen. Da«

bei ist das M erkwürdigste, daß auch Christen den Schei«

lock so sehen wollen. W enn er dem G roßkaufm ann A ntonio seine W u th ins A ntlitz speit, sind nicht nur Judenfreunde

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D ie Zukunft

auf seiner Seite. W enn der zum Verlust seiner H abe und zur Taufe Verurtheilte als ein zwiefach Geschlagener aus dem Gerichtssaal schleicht, geleitet ihn mitleidiges Schaudern.

D aß Shakespeare diese W irkung nicht gewollt hat, ist leicht zu erweisen. Sein W erk ist heiter, jubelt dem Leben zu und verklingt in eine Symphonie von Liebe, Mondschein*

Schwärmerei und M usik. D er Nachhall eines Rassenkampfes hätte ihm die Harm onie gestört. D er ganze Scheilockhan»

del m uß im letzten A kt, wie ein böser Spuk, vergessen sein;

und ist auch vergessen. Shakespeare übernahm den Stoff von Fiorentino und Silvayn (die ihn wahrscheinlich in älteren Büchern gefunden hatten). Beide erzählen von einem Juden, der sich von einem christlichen Schuldner für den Fall der Zahlungunfähigkeit ein Pfund Fleisch ausbedingt und die Forderung allen Ernstes einkassiren will. Silvayn giebt schon so ziemlich Alles, was von frühen Antisemiten gegen den Judengeist vorzubringen war. Dem Italer war der Jude nur eine E pisode in einer lustigen Geschichte von allerlei Rän*

ken. G ianetto, A nsaldos Pflegesohn, landet auf reich bela*

denem Schiff beim Schloß einer durch Schönheit und Wohl»

stand berühm ten W itw e, die von Freiern um drängt ist, sich listig aber, wie einst das W eib des Odysseus (nur mit schär*

ferem Erwerbssinn), dem hitzigen W erben zu entziehen weiß.

W er ihr einen A ntrag macht, wird ins W itw enbett gerufen (wir sind im M ittelalter und gar nicht zimperlich) und auf*

gefordert, ohne langes Ceremonial die Ehe zu vollziehen.

Zeigt er sich untüchtig zu so angenehmem Geschäft, dann verliert er die mitgebrachte M orgengabe und hat zum Scha*

den auch noch den Spott. U ntüchtig zeigt sich aber Jeder;

denn Jedem wird, ehe er sich hinstreckt, ein schnell wir*

kender Schlaftrunk gereicht. So bleibt die schlaue W itwe von Ketten frei und sieht sich nach jeder M ännerkraftprobe reicher. A uch G ianetto hat schon zwei Schiffe, zwei Schätze verloren; doch die Raserei der Sinne läßt ihn nicht ruhen.

Er bestürm t den Pflegevater, ihn zu einer dritten Reise nach Belmonte auszustatten. Ansaldo hat nicht mehr genug Geld und m uß, um den W unsch des Verliebten erfüllen zu kön*

nen, zehntausend D ukaten von einem Juden leihen, der sich,

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Mi l n e u e n Z u n g e n 3 7 5

n u r für den Fall der Insolvenz, ein Pfund von des Gläu*

bigers Fleisch verschreiben läßt. Diesmal komm t der von einer Z ofe vor dem N arkotikum gewarnte Jüngling ans holde Ziel:

m it ihrem ererbten und erlisteten Besitz wird die reizende W itw e sein. Im Rausch derFlitterw ochen vergißt er dieH eim ath, den V ater; erst am Verfalltag denkt er der Gefahr, die dem Aussteller des Schuldscheines droht. N im m geschwind zehnmal zehn«

tausend D ukaten und eile ohne Rast nach Venedig, spricht die Frau. Reist ihm noch in der selben Stunde nach, vermummt sich als A dvokaten aus Bologna, plaidirt für Ansaldo und setzt schließlich die Entscheidung durch, daß der Jude, der den zehnfachen Betrag seiner Forderung abgelehnt hat, zwar das Pfund Fleisch aus dem Leib des Schuldners schneiden, doch dabei keinen Tropfen B lut vergießen darf. D ie Sache ver«

läuft wie in dem G edicht des Briten; sogar die Ringgeschichte stammt von Fiorentino. D ie Bettprobe war selbst für die elisabethanische Bühne nicht zu brauchen und w urde durch die aus Robinsons G esta Romanorum entlehnte Parabel von den drei Kästchen ersetzt. D och der Jude blieb der geprellte W ucherer aus der Komoedie. U n d die ursprüngliche Ab*

sicht des Dichters war gewiß, Scheilock dem Gelächter aus*

zuliefern. Er ist geizig und sein H aus eine H ölle; Jessika h aßt, Lanzelot h öh nt ihn und T ubal hat seine Lust daran, d en von Schmerz und Z orn beinahe Tollen noch muthwillig zu martern. W arum h aß t der Ju d e A ntonio? „W eil er von den C hristen ist, doch mehr noch, weil er aus gemeiner Ein*

falt um sonst G eld ausleiht und hier in Venedig den Preis der Zinsen uns herunterbringt.“ Die Tochter sähe er gern to t und eingesargt, w enn nur die D ukaten und Juw elen ne*

t>en ihrer Leiche lägen. Keine Spur von G üte ist an ihm.

M ag A ntonio verbluten: von der Pflicht der W undpflege steht nichts in dem Schein. D rum liebt ihn auch kein Mensch, ist N atu r und K unst ihm stumm. D er T on der Flöte dünkt ih n nur lästiges G equäk. W ie aber spricht aus Lorenzos M und zu uns der D ichter? „D er M ann, der nicht M usik h at in sich selbst, den nicht die Eintracht süßer Töne rührt, taugt zu Verrath, zu Räuberei und Tücke; die Regung seines Sinns ist dum pf wie N acht, sein Trachten düster wie der

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Erebos. T rau keinem Solchen!“ W er Scheilock als H elden oder M ärtyrer spielt, fälscht, auch wenn er Kean oder Rossi heißt, den Schöpfer willen des Dichters.

A ber Shakespeare war nicht M arlowe; und der Ju d e von Venedig konnte deshalb kein Ju d e von M alta werden. A uch er m ußte „Recht haben“ ; und hats auf seine besondere W eise.

D rängt in dieser W elt nicht Alles nach G o ld ? Ist A ntonio nicht ein Kolonialkaufmann, der sicher auch mit Sklaven han#

delt, Bassanio ein skrupelloser M itgiftjäger? (Bei Shakespeare richtet Altväterweisheit oft U nheil an. Brabantios W arnung v/eckt das M ißtrauen in der Brust des M ohren; und das Blei#

kästchen, mit dem Porzias Vater die Tochter vor geldgierigen Freiern schützen wollte, wird just nun von Einem geöffnet, der G eld sucht und Liebe fand.) Jessika selbst, die vonT hisbe und M edea so artig zu schwärmen weiß, vergüldet sich, ehe sie mit dem Buhlen der H ölle entläuft, mit D ukaten und Edelgeschmeide: und H err Lorenzo freut sich des dem Sch wie#

gerpapa gestohlenen Gutes. N u r Porzia, die Lady von Bel#

mont, denkt nicht an Besitz, an G ew inn; von ihrer Art, sagt die kluge Jüdin, hat die arme, rohe W elt aber auch nur eine geboren. U nd Scheilock, der nicht das Land bebauen, nicht Schiffe an fremde Küsten schicken darf, soll nicht dafür sor#

gen, daß sein G old und Silber sich schnell m ehrt? W as hat er denn sonst noch? H aß und Verachtung grüßen, Flüche und Spottlieder folgen ihm. Er ist nicht vom Stamm des Barrabbas; ist anders, doch nicht von anderem W esensstoff als die „Christenm änner“ . Die bereichern sich durch Sklaven­

arbeit und A usbeutung der Kolonialkundschaft oder birschen auf reiche Erbinnen; ihm bleibt nur der gemeine W ucher.

Vielleicht sollte die Fleischforderung den hochm üthigen An*

tonio nur kirren, der in (oft erborgter) U eppigkeit schwelgen#

den G entry nur zeigen, daß auch ein Jude das Recht für sich waffnen kann. N u n aber ist die Tochter entflohen, das H aus ausgeraubt, der jammernde Vater vom Pöbel gehöhnt und bespien w orden; nun walte der G o tt der Rache, der Erbarmen nie lernte . . . Dem alten Ungethüm , das die Ge#

richtsschranke umkrallt, wird schlimm mitgespielt. Porzias Spruch ist die unverschämteste Rechtsbeugung, die sich er#

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M it n e u e n Z u n g e n 3 7 7

denken läßt; nicht besser als ein U rtheil, das dem Schuldner ein Pfandobjekt zuspräche, dem G läubiger aber die Befug*

n iß , den Raum , der es birgt, jedem Fremden zu sperren.

N e in : viel schlimmer noch. D er Vertrag mochte, weil er gegen Menschenpflicht und M oral verstieß, für ungiltig erklärt wer*

den. A ber die Vermögenskonfiskation und der Taufzw ang?

D ie Grausamkeit des Spruches wäre unerträglich und m üßte jedem feiner Fühlenden die Freude an der D ichtung verleiden, wenn er nicht in einer Komoedienwelt gefällt würde. N icht an die Vernichtung eines Menschenlebens, noch weniger an das ahasverische Elend eines Stammes sollen wir denken, wenn in der M ondnacht sich die Paare gefunden haben, sondern über den W ucherer lachen, der sich schlau dünkelte und von einem M ädchen doch, trotz seinem Sträuben, mit der eige*

nen Waffe, dem blanken Schächtmesser, bezwungen ward.

N icht immer darf man über ihn lachen; und nicht immer vermag mans. W eder Christ noch Jude. „D ulden ist das Erbtheil unseres Stamms.“ „W enn Ihr uns stecht: bluten wir n ich t?“ „D er Fluch ist erst jetzt auf unser Volk gefallen;

ich hab ’ ihn bis heute niemals gefühlt.“ Lessing hat sich die Sache leicht gemacht. Sein N athan hat keinen der fremd*

artigen Züge, die den Söhnen Sems im W echsel der O rte und Zeiten überall neuen H aß weckten, keine der Furchen, die zwei Jahrtausende der Knechtschaft, des Elends, der Ghet*

tobedrängniß, der Inzucht und schnöden Erwerbsgier auf die H ebräerstirn pflügten. Ein vornehmer, aus allen Quellen euro»

päischer Bildung getränkter Herr, der sich bequem t,für kurze A bendstunden ein Jud e zu scheinen, und vor dem, als dem weisesten,gütigsten,uneigennützigsten aller Sterblichen,Christ un d M usulman sich in Bew underung beugt. W ie ein Mensch neben einer M odellpuppe wirkt Scheilock neben ihm. W elch e in ju d e l Shakespeare hat wohl nur einen gesehen: den jü*

dischen Leibarzt der Königin, der, als zu Vergiftung Elisa*

bethsvom Spanierkönig PhilippBestochener, 1594 hingerichtet w u rd e; und auch diesen Rodrigo Lopez sah er gewiß nicht nah.

Erst 1660 durften wieder Israeliten in England wohnen. U n d das Gerücht, der G lobusbeherrscher sei in dem Pestjahr 1592, wo alle londoner Theater, wegen der Ansteckungsgefahr, ge»

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schlossen blieben, in Venedig gewesen, ist durch kein haltbares Zeugniß beglaubigt. H ätte er in der A driarepublik (in der die Jud en freilich zu Tausenden saßen) auch nur einen Tag ver«

bracht, dann w ürden seinem Venedig die Kanäle und G ondeln nicht fehlen. D och wozu brauchte er Scheilock und Scheilocks Sippschaft zu sehen?Sah er denn den großen C aesar? D en rö ­ mischen Junker, der bei Corioli die Volsker schlug? Richard und Bolingbroke ? D en bleichen Prinzen, dem Bewußtsein den W illen lähm t und dessen Epidermis so dünn, dessen Ge*

wissen so zag und schwindlig ist wie des M odernsten? Keiner ging ihm auf der Gasse vorüber. Alle sah nur das innere A uge des ewig U nbegreiflichen, den man nicht wägen, nicht messen, nicht in bestimmbare Vermögensgrenzen zwingen kann. Auch Scheilock fand er nicht auf der Rialtobrücke.

D ennoch: welch ein Jude! D ie Sprache: kein W o rt und kein Bild, das er nicht gewählt haben könnte, haben m üßte. D er Rhythm us: eines Geldhändlers, dem das Buch M osis und der Propheten zum Vaterland ward. D as Verhältniß zur Tochter, zum H ausburschen, zum K onkurrenten; auf Lea sogar und sein Eheleben mit ihr fällt rückwärts ein fahler Lichtschein. In drei Jahrhunderten ist seitdem keine Judengestalt erschaffen worden, die wagen darf, sich neben diese zu stellen, nicht eine; es ist, als habe Scheilock alle M öglichkeiten typischer D arstellung erschöpft. Zäh ist er, schlau, betriebsam; ein Knicker und Pfennigscharrer; und doch so schlaff gezügelt, im D rang seiner Rachsucht so unbesonnen, daß er auf einen Satz die in langer Q ual gehäuften Schätze verspielt. Alle Tugenden und alle Laster geduckter, entwurzelter O rient­

menschheit, der nur ein M achtmittel gegönnt war und die Jahw ekult und M ammonsdienst gar zu gern vereinen wollte.

U nd auch dieses Schöpfers Brust war gegen das Leid der Kreatur nicht gepanzert. M an könnte glauben, der Komoe*

diant, selbst ein Paria, mit dem adelige und reiche H erren ihr freches Spiel trieben, habe für W eh und W u th des Parias leichter als A ndere den rechten T on gefunden. Für wessen Schmerz und Lust aber traf er ihn nicht? W as je in einer M enschenbrust tobte und jauchzte, hat er em pfunden und zu persönlichstem A usdruck gebracht. Greisen und Kindern

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.Mit n e u en Z i m t e n 3 7 9

sah er ins H irn und seine Stimme bebt, wenn er sie ihnen leiht, noch von ihrem Herzschlag. Kordeliens holdes Schwei­

gen hörte er und sah im N ilpalast die alte, fett gewordene Schlange in später Lüsternheit züngeln. N icht nach Venedig brauchte er zu gehen, um Scheilock zu finden; ihn auch nicht bei M arlowe, Silvayn, Fiorentino zu suchen und das dürre Gestell dann mit aufgestapeltem M imengrimm zu wattiren.

Israels Erlebniß stand in der M enschheit heiligen Büchern D ie Logosheimath, die U nstetheit, die in R aubbau zwingt das G hetto, der Zwang, im G eldhandel durch die Lücken tyrannischer Gesetze zu schlüpfen, die Furcht, mit dem Be#

sitz auch den letzten H alt gegen rohe W illkür zu verlieren, und das Gefühl, dem Bedrücker nicht Treue noch Redlich­

keit schuldig zu sein: diese Elemente konnten in einem ma*

jestätiSch leuchtenden H irn sich zum W esensbild mischen.

In einem H irn, das des Fluches G ift nicht bis ins zweite G lied fortschwären ließ. Jessika ist des Dichters Liebling und, trotz A bkunft, Diebstahl, Ausbruch, auf Porziens sau#

berem Edelsitz willkommen. D och ihr Vater m uß scheu#

sälig bleiben. Den Großkaufm ann, der, im Ekel vor gewissen#

los frechem W ucher, den Zinserpresser anspie, will Schei#

lock nicht etwa, M ann wider M ann, töten, auch nicht arglistig morden, nein: im Schutzbezirk der Gerichtsschranke schlach#

ten, in langer Q ual verbluten lassen. N u r vor eiternden Seelenstümpfen ist er dadurch entschuldigt, daß die N obili nicht, sammt ihrem T roß, in amianthischer Reine prangen.

Alltagszärtlinge mit rasch stichelnder Zunge, rasch in G ier aufglühenden Herzen und gefälliger A llure; dem Freund länger als dem Liebchen treu, der Feigheit so fern wie dem Tugend#

geheuchel und des Kitzels, der in A benteuer drängt, erst ledig, wenn N o th zwingt, nach einem Goldfischlein zu angeln. (Der M ann, der dem R uthendorn die M annheit einhakt, um eine Frau zu erködern, deren G eld oder A rbeitihn nähren kann: im Leben als ein in die W elt Paßlicher geachtet, auf der Bühne ein dem D unstkreis der Zuhälterei benachbarter W icht. U eber einen Bassanio, der die karg ausgestattete Nerissa, weil sie ihm lieblicher duftet, der reichen Porzia vorzöge, spräche die Rechts#

genossenschaft das U rtheil: „Ein Tropf, den geiler Taumel

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380 D ie Zukunft

beherrscht; er konnte die M illionärin haben.“ H inter dem Lichtbirnenspalier scheint er fast erbärmlich, weil er nach dem Reichthum der H oldesten langt.) D ie anmuthig Ludernden verthun nur Ersetzliches und sind der N atur gehorsam. Schei«

lock will N atur nach seiner Laune kneten, ihr die W irbel­

säule des W illens brechen, Jahwes D romete und Schwert sein. Ein bis in dasG ehäus schlauer Frommheit verschmutzter M enschheitschänder. D rum wird er geprellt und zerstriemt;

ohne G nade der Unbarmherzige. H o h n m uß ihm nachgellen;

nicht eine Zähre rinne seinem Leid. W er weiß, ob er sich nicht noch einmal aufreckt? M orsch ist er nicht. Kann in Verona mit erborgtem G eld das alte Geschäft fortsetzen, das Christenbekenntniß abschwören und, wieMarlowesBarrabbas, in den Bart schmunzeln: Lieber mit vollem Säckel ein ge«

haßter, angespuckter Jud e als ein darbender Christ.

Am finsteren Kanälchen sehen wir sein H aus; zwischen feuchten, schwitzenden Mauern ein O bdach, einen Münz?

schuppen und Krämerwinkel, nicht ein von Liebe betreutes Heim. U eber die Bühne des Deutschen Theates schritten, als H err Reinhardt dem G edicht einen Körper geschaffen hatte, zwei Scheilocks. H err Schildkraut konnte nicht H eld, wollte nicht Scheusal sein. W ollte mimisch beweisen, daß hier ein M ensch lebt, der geworden ist, wie er werden mußte, Als Vater beinahe zärtlich, als Geschäftsmann nicht ohne Stolz, vor dem D ogen ein angesehener Bänker, der eine Wechsel«

schuld eingeklagt hat und sicher ist, sein unanfechtbares Recht durchzusetzen. Sehr jüdisch, auch im Innersten; der Verlust seiner H abe beugt ihn nicht, wie ein Blitz aber wirft ihn die Verdammniß zur Taufe nieder. D ie G estalt war, als ich sie sah, allzu klein; mit der (niem als aufdringlichen) Fülle ihrer Menschenmale den M aßen des Bürgerdramas besser als eines H öllenulkes angepaßt. Dieser Ju de m uß, ob man über ihn lacht oder vor ihm erschaudert, ein anderer Kerl sein als das D utzend der W ucherergilde. Ein vom rothen D äm on völlig Besessener, dem man zutraut, d aß er „zunächst e m H erzen“ das ihm verpfändete Pfund Fleisch ausschnei«

den wird. D ie bösesten Blutsauger und H alsabschneider klettern aus der Titelm etapher nicht in wirkliche Gewalt*

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M it n e u e n Z u n g e n 381 th at; lassen sich auf so riskante und dennoch ertraglose Ge«

schäfte nicht ein. Dieser thuts: und m uß in jeder Lebens*

regung deshalb maßlos, dem U rständ der N atu r nah sein.

D ahin möchte der andere Scheilock sich recken: H err Basser«

mann. Schlanker, nicht leiblich nur, ohne Fettpolster über den Sehnen und Nervensträngen, im T on hier schriller und d o rt feierlicher. Ein verrammelter W illenskäfig; durch dieses Schleußenthor drang kein Tröpfchen kühler V ernunft in das brodelnde Blut. N icht sehr jüdisch und doch unbescheiden ner als der echte Jude. Im Gerichtssaal ein freches M aul und die H altung des H errn (der die höchste Gage hat).

D er D oge von Venedig thront nicht in der gottähnlichen • A llm acht eines deutschen Landgerichtsdirektors, der einer

Strafkammer vorsitzt; ließe sich aber solches Gepfauch, Ge#

wetz, Gekreisch von einem Pfandleiher aus dem G hetto wohl nicht gefallen. Scheilock m uß mit der Grimasse krallenloser D em uth auf seinem Scheinrecht stehen; m uß unterwürfig noch, wie von Unvorstellbarem, von einem U rtheil wispern, das Venedigs Gesetzbuch in Schande einsudeln würde. (D azu braucht er nicht den Rath der Vernunft; für diese Stauung des Blutdranges sorgt der auch im Thier wache Trieb, sich selbst zu erhalten.) Herr Bassermann ist der reifste, im breiten Bezirk seines Könnens jeder W irkung sicherste Schauspieler, d er heute in D eutschland lebt. N och jenseits von diesem Bezirk (dessen Grenzen sich erst, wenn wir in Lears Kö*

nigreich, Narrenreich schauen, dem A uge markiren) ein Sou*

verain. Im G ew and unserer Zeit, unserer M entalität und Lebensgewohnheit unübertrefflich. Niem als ein kalt klügeln«

d e r Virtuos. D en täuscht die ungemeine Routine des Spie»

lers den von solcher Herrschaft über alle Kunstmittel Ge*

blendeten vor. D ahinter w ohnt lautere Redlichkeit, die eher verhungern als mit Falschmünze zahlen würde. W o dieser M enschenwerth nicht zum A usdruck kommen darf, verarmt schnell auch der Mime. Scheilocks K ontur kann er geben;

nicht Scheilocks W esensfarbe noch den Inhalt seiner Hirn«

gefäße. „Er nehme sich in A cht mit seinem Schein 1“ Viel Schmächtigere holen aus der zweimal wiederholten D rohung, aus den Krämpfen, die Tubals V etternbosheit noch steigert,

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stärkeren W iderhall. Vor dem Richter wird dieser Jud e protzig frech, weil er den Spieler sonst nicht infam genug dünken würde. W arum aber setzt auch dieser vor allem Bildlichen sonst so Bedächtige dem Vater des schwarzen Kätzchens aus Z ion (den Richard Burbadge in rothem H aar spielte) eiri G reisenhaupt auf den straffen Rum pf? W arum salbt er den- zuvor richtig Gesehenen am Ende doch ins Ranzig«Senti*

mentale? Eines rührsamen G raukopfes Anblick verwirrt unser Gefühl. U n d wir sollen ja lachen; im Gelächter den Schwarz*

alben aus der Erinnerung spülen. Eine Komoedie sahen wir;

aus Jammer und Lebensgefahr lockt nun die M usik der M en­

schen, der D inge in Komoedienstim mung zurück. Schon einmal rieth ich, die Sache Scheilock wider A ntonio öffent*

lieh richten zu lassen. Athemlos lauscht Alles. D ann, als Porzia in der Robe des Rechtsgelehrten ihr Schelmenstück vorgetragen hat, platzt, nach kurzer Pause, auf der Galerie unwillkürlich Einer heraus. Das Lachen steckt an und bald jauchzt der ganze Saal über den gelungenen Streich. Nichts mehr von Gerechtigkeit, vom Sinn des Gesetzes. Kein mensch*

liches M ittel blieb unversucht; A rglist werde drum über*

listet. D er Jud e jammert (weil ihm sein G eld genommen wird, nicht, weil er C hrist werden soll; davon hat Shakespeare nichts angedeutet) und trollt sich, unter sprühendem. Hohn*

regen, aus dem Saal. D er Spieler m uß freilich auf den be*

währten „A bgang“ verzichten. In die M ondnacht fällt aber nicht, zwischen schäkernde, zu emsiger Lust frohe Paare»

der Schatten eines vernichteten M enschen. Jessika braucht im Bett nicht zu schaudern.

Venedig hört man nur athm en; sieht es kaum. Keinen A ufzug noch das G eplärr putzsüchtiger M askentänzler. Vom Lido hats gestürm t und Gischtflocken bis an die Täubchen*

krippe geweht. Fordert das Recht der Republik, duldet auch nur, daß ein H andelskönig das Brustgewölb dem Stahl fremd*

bürtiger Rachsucht öffne? Banget nicht! N atu r hilft sich selbst. D aß die Jü d in raffte und floh, scheint nicht mehr Frevel. Freundesnoth läuterte den G enießer. Eines Mäd*

chens klingende Seele wird zum Schild, der das Schächt*

messer stumpft. U n d die Pfahlstadt badet in Sonne.

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Mi t n e u e n /.U n h e il 3 8 3

So wars vor der Sintfluth. In dem G roßen Schauspiel*

haus ist es anders. D ie G aleonen des königlichen Kauf*

mannes lagen, als er ins A m phitheater umzog, noch nicht im H afen; n u n 'h at er sich eingerichtet, wie N othbehelf eben erlaubt. Auch diesmal zeigt der Regisseur Reinhardt sich als Souverain: an Erfinderkraft und „gutem Einfall“ reicher, verwegener und, manchmal, frischer, weniger mit schreck*

lieh viel Erlesenem beschwert als noch die Stattlichsten unter den Jüngeren, die ihm den Kranz vom H au pt reißen möch*

ten. Sein H erz aber höre ich in dem neuen Körper der mu*

sisch*menschlichen Komoedie nicht schlagen. Erinnert Ihr Euch der Bilder, auf denen dieTatze des Allumfassers Rubens unverkennbar, sein Persönlichstes aber, der Athem seiner Seele, nicht erhalten ist? „Aus der W erkstatt des M eisters“ : steht im Katalog. Das, scheint mir, könnte auch von dem neuen Kleide des edelsten Lust*Spieles gesagt sein. Eine fast schneehell flimmernde, dunkel durchschnörkelte Fläche, aus der Glanzpünktchen, von Edelstein oder M uranoglas, funkeln, schließt hinten die Szene ab; eine auferstandene Vineta eher als Venezia, die in den Tagen der Postkarten*

kultur schon dem Kindsblick vertraute „Brentaperle“ . Vor dem Flächenbild dieser Traum stadt, das nicht A bbild irgend*

einer W irklichkeit sein will, eine breit gewölbte Brücke, auf die ein ganzes H eer nordischer G ötter sich zu Rückmarsch nach W alhall schaaren könnte. D ie drei W erbungen wer*

den wie schmale, sehr bunte Reliefstickstreifen aufgerollt, zu*

gerollt. Porzia hat keinen Raum zu W esensentfaltung. U nd ist eine mit Verstand un d tief schöpfender Empfindensfähig=

keit, doch nicht mit Schönheitreiz und Erotenspende be*

gnadete, in Lebenshochsommer ausgereifte Frau, in keiner M inute das „unerzogene, ungelehrte M ädchen, das glücklich ist, weil es noch nicht zu alt zum Lernen ward.“ A uch die Spielerin ist, mit leiblich und seelisch guter Statur, nicht etwa

„zu alt“ ; wirkt aber ganz unerotisch, ist ein starkes Herz, das trösten, nicht berauschen kann, mit zärtlich rundem A uge Schwester, Gefährtin, Samariterin, nicht Geliebte, die beste Berlichingerin und Caecilie, niemals Stella oder A delheid.

Porzia ist Rosalindens Zwilling; daß sie, deren K ronkleinod

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schlichte N atürlichkeit ist, sich in einem Vogelbauer, pomp*

haft aufgeputzt, vor die Freier tragen läßt und von verhalt tenem D rang, über die starre Fratze zu lachen, nicht platzt, glaubt nur, wer ihren knospenden W elthum or nicht kennt.

D en rothen Scheilock (H errn K rauß) sah ich noch nicht;

erst den grauen: H errn Klopfer, einen redlichen Künstler und deutschen Christen. W uchtig und hochstämmig, ganz auf Tragoedie gestimmt, im Rockelor noch nicht heimisch, vor dem H ohen Rath (der sich als Zuschauer, nicht als Gerichts«

hof zu fühlen scheint) mit Geschrei und G e wetz viel zu patzig;

aber ein Kerl. „D ie nächsten Male mehr davon.“ H eute nur noch ein M erkwürdiges. W ährend in der W erkstatt des Mei«

sters für das vielgescholtene H aus ein Plakatstil ausgebildet wurde, dessen G rellheit feinen M enschenwerth kaum noch dul«

det,istderM eister selbst so dicht an dieLösung desRaumproble«

mes gekommen, daß er all den H okuspokus gar nicht mehr braucht. N icht nöthig hat, die (nur allzu geistreiche) H oheit des marokkanischen Kriegers inO perettenkitsch zu entwürden, d en muntersten Lanzelot vordringliche Parterregymnastik und V atersschändung treiben, aus Grazianos W itz, dünnem Stoff, von der W ringm aschine jedes Tröpfchen pressen zu lassen.

H atten die Schimpfgewitter H errn Reinhardt selbst fürchten gelehrt, sein G roßes H aus fordere Sondergesetz für A kustik und O ptik, müsse von Circus und Kino W irkensm öglichkeit entlehnen? N ach langem Sträuben hat er sich entschlossen, in seiner Arena den Bereich der Bühnenfiktion abzugrenzen:

und hell liegt nun der W eg in die Z ukunft des A mphitheaters.

Bald, hoffe ich, wird der bisher ganz von dem Raumproblem Befangene sich wieder ins Innerste der Gedichte einfühlen und aus ihrer Seele den Leib bauen. Von innen, nicht so oft mehr von außen, klingt dann M usik, das M ühen um M eisterung des Apparates lähmt nicht die Kraft zu G estaltung; und Men«

sehen werden menschlich gesehen. Diese H offnung war ein Licht des Abends. D as andere leuchtete aus der Freude, daß H underttausend, breite Schwärme M ühsäliger und Beladener, in das strahlende A uge des Gedichtes schauen dürfen, dessen W elt ihnen ohne den Anblick stumm bliebe. H orchet: sie spricht von Liebe und Freundschaft, U eberm uth und Knechts»

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M it n e u e n Z u n g e n 3 8 5

grimm, Geldverachtung (des durch Rang und Sippschaft Ge*

schirmten) und G eldgier (des in A rm uth Schutzlosen), von tötendem Recht und belebender Gnade. Spricht, nie lehrhaft, nie im T on des gesalbten Seelenhirten, W eisheit, die flink, wie ü b er Lenzprimeln und grünen Zweigspitzen ein zwitscherndes Schwälbchen, im Aether zu schweben scheint und sich Dick*

häutern doch insG em üth eindrückt. A uch hier ist Evangelium.

Nachhall von Ostergelächter aus uraltem Kirchenschauspiel,

•das, ohne A ngst vor Entweihung, das Heiligste in Fasern hechelte und sogleich wieder Legende draus spann. Scheilock soll C hrist werden: da plätschert das Lachen. D en tauft alles W asser der A dria nicht. U nd ist, dennoch, ein Mensch, nicht des alten Spieles geprellter Teufel. Frucht von Ahasvers Stamm.

D er wäre längst abgestorben, wenn nicht Steingeröll die Auf*

erstehung des Heilandes in Euren Herzen gehindert hätte.

I s t E u c h d e r M e is te r n a h ?

„W ir T ürken müssen und wollen den W eltkrieg be*

nutzen, um mit unseren inneren Feinden gründlich aufzu«

räumen, ohne durch die D iplom atie des Auslandes in dieser nothw endigen A rbeit gestört zu werden.“ So sprach, im Sommer 1905, Talaat Bey, M inister des Inneren, zu einem Beamten der Kaiserlich D eutschen Botschaft. W as ist aus dem schamlos ausgesprochenen Vorsatz gew orden?

„Ich hatte die E rlaubnis erlangt, die Lager der Armenier längs des E uphrat von Meskene bis Deir-cs-Sor zu besuchen und Rechenschaft zu geben von dem Z ustand, in dem sich die dorth in deportirten Armenier befinden, von den Bedingungen, unter denen sie leben, und, wo möglich, von d er annähernden, Anzahl d er Verschickten.. Ich reiste auf dem rechten U fer des Stromes. Von ,Lagern' zu sprechen, ist eigentlich1 nicht m ög­

lich. D er allergrößte Theil dieser Unglücklichen, die in b ru ­ taler W eise nus ihrer Heim ath, von H aus und H of fortgetrieben wurtden, getrennt von ihren Familien, noch im Augenblick ihrer A ustreibung alles Dessen beraubt, w as sie besessen, unterwegs entblößt auch von Allem1, w as sie noch mitgenomm en hatten, ist unter freiem Himmel wie Vieh zusam m engepfercht, ohne1 den geringsten Schutz gegen Hitze und Kälte, beinahe ah n e Klei­

dung, sehr unregelm äßig und (durchgängig in völlig unzurei-

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ehender Weise ernährt. Jedem1 (Wechsel der W itterung ausge­

setzt, im' Somm er dem glühenden Sonnenbrand d er W üste, im F rü h jah r und H erbst dem ’ W ind und Regen, im W inter der bitteren Kälte, d urch1 die äußersten Entbehrungen geschwächt, durch' endlose Märsche entkräftet, übelster Behandlung, g ra u ­ samen Torturen und d er beständig drohenden Todesangst au s­

gesetzt, haben sich1 Diejenigen, die noch einen Rest ihrer Kräfte behielten, an den Ufern d e s Stromes Löcher in die Erde ge­

graben, in die sie sich' verkriechen. Die äußerst W enigen, denen gelungen ist, einige Kleidpr und etiwas G eld Ibei sich' zu behalten, und die in d er Lage sind, etwas Mehl zu kaufen, werden als glückliche und reiche Leute angesehen. Glücklich auch, die sich1 von den Landleuten einige W asserm elonen oder eine kranke und 'magere Ziege (von den N om aden m it Gold aufgewogen) erstehen können. Ueberall sieht 'man n ur blasse G esichter und ausgemergelte Gestalten, herum irrende Skelette, die von K rank­

heiten geschlagen sind und sicherlich dem H ungertod zunr O pfer fallen werden.

'Als m an dieses ganze Volk in die W üste zu transportiren beschloß, hat m an in keiner Weise für irgendwelche E rnährung Sorge getragen. Im G egentheil: es ist ersichtlich, daß die Re­

girung den Plan verfolgt hat, sie H ungers sterben zu lassen.

Selbst ein organ isirtes Massen töten, wie in d er Zeit, d a man in Konstantinopel noch nicht Freiheit, G leichheit und B rüder­

lichkeit proklam irt hatte, wäre eine sehr vie.l m enschlichere Maßregel gewesen, denn es hätte diesem erbarm ensw erthhi Volk die Schrecken des IHungers, den langsamen Tod und die entsetzlichsten Schmerzen unter raffinirten Torturen, wie sie grausam e Mongolen nicht erd ach t hätten, erspart. A ber ein M assacre ist w eniger ,konstitutionell' als der Hungertod. Die Civilisation ist g e re tte t!

W as noch1 übrig ist von der arm enischen Nation, die an die U fer des E uphrat versprengt ist, setzt sich zusammen aus- Greisen, Frauen und Kindern. M änner mittleren Alters und junge Leute, soi weit 'sie noch' nicht abgeschlachtet sind, w ur­

den au f den Landstraßen des Reiches zerstreut, wo sie Steine klopfien, für den Bedarf der Armee ojder für andere Arbeiten auf Rjechnung d es Staates requirirt sind. Die jungen Mädchen, oft nochl Kinder, sind die Beute (der M oham tncdaner gew orden. Auf den langen M ärschen an s Ziel ihrer Verschickung h at m an sie verschleppt, bei G elegenheit ihnen Ge*walt iangetWar., sie ver­

kauft, wenn sie nicht schon von den G endarm en, welche die

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Mit n e u e n Z u n g e n 3 8 7

düsteren Karawanen begleiten, um gebracht waren. Viele wurden von ihnen Räubern in 'die Sklaverei des H arem s geschleppt.

Berittene G endarm en m achen die Runde, um Alle, die zu entweichen suchen, fesizunehm en und m it der Knute zu be­

strafen. Die Straßen sind g u t bewacht. U nd was für Straßen!

Sie führen in die W üste, wo Flüchtlinge ein eben so gewisser Tod erw artet wie unter d er Bastonmade ihrer osmanisclien G efängnißw ärter. Ich' fand in (der W üste, an verschiedenen O rten, sechs solcher Flüchtlinge, die im Sterben lagen.. Sie waren ihren W ächtern entschlüpft. Nun waren sie von au s­

gehungerten Flunden umgeben, die lauf die letzten Zuckungen ihres Todeskam pfes warteten, um sich auf sie zu stürzen und, .sie zu verzehren. Am JWege findet man überall die Ueber- bleibsel solcher unglücklichen Armenier. Zu Hunderten zählen die Erdhaufen, unter denen sie ruhen und nam enlos entschlafen sind, diese Opfer einer unqualifizirbaren Barbarei. Auf der einen Seite hindert man sie, die Konzentrationlager zu verlas­

sen, um sich irgendwelche N ahrung zu suchen, auf der ande­

ren Seite m acht man es ihnen [unmöglich, die natürlichen Fähig­

keiten, die dieser Rasse eigen sind, zu gebrauchen, um sich an ihr schreckliches Schicksal anzupassen und ihre traurige Lage in erfinderischer Weise zu verbessern. Man könnte U nter­

schlupfe, Stein- oder Erdhütten bauen. W enn sie wenigstens irgendwo U n te r k o m m e n könncen, wäre es ihnen möglich, sich mit Landarbeit zu beschäftigen. Aber auch diese Hoffnung hat man ihnen genom m en, denn sie werden beständig unter Be­

d ro h u n g des Todes von einem O rt zum anderen geschleppt, um Abwechslung in ihre Qualen zu bringen. Man scheucht sie auf zu neuen Gewaltmärschen, ohne Brot, ohne W asser, unter der Peitsche ihrer Treiber neuen Leiden, neuen M ißhandlungen au s­

gesetzt, wie sie nicht lein mal die Sklavenhändler des Sudan ihren Opfern zufügen würden. U nd die ganze Strecke des Weges, eine fürchterliche Reihe von Leidensstationen, ist durch die O pfer dieser T ransporte bezeichnet.

Die noch etwas G eld bei sich haben, werden unablässig von ihren W ärtern ausgeplündert, idie sie m it einer noch1 wei­

teren Verschickung bedrohen und:, wenn ihre kleinen Mittel erschöpft sind, diese D rohungen (auch ausfüh'ren. Ich glaubte, die Hölle zu durchqueren. D ie wenigen Züge, die ich! wieder­

geben will, sind zufällig unid in d e r Eile zusammen gelesen. Sie können n u r eine schwache V orstellung von dem ’ entsetzlichen und grauenhaften Bild geben, d a s ich: vor Augen gehabt habe.

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388 D ie Zukunft

Ueberall, w o ich' gereist bin, habe ich die selben Szenen ge­

sehen ; überall, w o das Schreckensregim ent d er Barbarei herrscht, das die system atische A usrodung der arm enischen Rasse zum Zief hat. Ueberall findet man die (selbe unm enschliche Bestialität der Henker, die selben Torturen, mit denen m'an die unglück­

lichen O pfer quält.

Der Eindruck, den die 'große Ebene von Meskene hinter­

läßt, ist tieftraurig und deprimirenid. Die Auskünfte, die ich an O rt und Stelle empfangen: habe, gaben mir d as Recht, zu sagen, d aß gegen sechzigtausend Arm enier hier begraben sind, die dem Hunger, den Entbehrungen, der D ysenterie und dem Typhus erlagen. So weit das Auge reicht, sieht man Erdhügel, von denen jeder etw a zw eihundert bis dreihund ert Leichen en t­

hält. Frauen, Greise, Kinder, Alle:» durcheinander, von jedem Stand und jeder Familie. Jetzt sind noch viertausendvierhundert Armenier zwischen d er Stadt Meskene und dem E u ph rat ein­

gepfercht. Sie sind nicht 'mehr als lebende G espenster. Ihre Oberw ächter vertheüen ihnen sehr 'unregelmäßig und sparsam:

ein kleines Stück Brot. Es kom mt oft vor, d a ß sie im Laufe von drei oder vier Tagen absolut nichts erhalten. Eine enN setzliche Dysenterie w iithet und fordert besonders unter den Kindern schreckliche Opfer. Diese unglücklichen Kleinen fallen in | ihrem H unger über Alles her, iwas sie finden, sie essen G ras, Erde und selbst Exkremente.

Ich sah unter einem Zelt, das nur einen Raum von fünf zu zu sechs Metern im Q u ad rat bedeckte, ungefähr vierhundert W aisenkinder, die am V erhungern waren. Diese unglücklichen Kinder sollen täglich hundertfünfzig Gram m Brot erhalten. Es kommt nicht n ur vor, sondern geschieht oft, d aß man sie zwei oder drei Tage ohne jede N a h ru n g läßt. N atürlich ist die S terb­

lichkeit fürchterlich. In acht Tagen hatte die Dysenterie, wie ich selbst feststellten konnte, siebenzig dahingerafft.

Abu Herere ist eine kleine O rtschaft nördlich von M es­

kene am Ufer des Euphrat. Es ist der ungesundeste O rt d e r W üste. Auf einem Hügel zw eihundert Meter vom Fluß fand' ich' zweihundertvierzig Armenier, von zwei G endarm en be­

wacht, die sie mitleidlos unter gräßlichen Qualen des H ungers sterben ließen. Die Szenen, die ich gesehen habe, lassen jede Vorstellung denkbaren G rausens hinter sich. N ah bei dem O rt, wo mein W agen hielt, sah ich Frauen, die, als sie mich konr- mfen sahen, sich daran m achten, aus dem Koth d er Pferde die we­

nigen unverdauten G erstenkörner, die sich noch darin fanden,

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lich Mal Abwechselung Plan fürchtet, zu kurz zu kommen, und will die Erlebnisse beschleunigen, um einen neuen psychologischen Roman schreibenzn können; Rachegefühle spielen

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