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Berlin, den Is. Januar 1902.
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Eine neue Aerap
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demachten Januar sindin denberlinerParlamentensovielepoli-·tifcheRedengehalten, sovielefürdiepreußifcheReichspolitik wichtige Gegenständeberührtundnachlangem Ruhenverrücktworden, daßnureines TaschenfpielersSchwindelkunstsiefämmtlichuntereinenHutbringenkönnte.
UnddochhattedieParlamentszeit fo still begonnen,alssteheunskeine Ueber- raschllngbevor.DieThronrede, nachderenVerlefungderpreußischeLand- tageröffnetwurde, stelltdieKammern voreinPenfum,dasimlaufenden
Quartalbequemausgearbeitetwerdenkann,wenn dievomVolkErwählten
IFMUEifer nichtvondemWunsch hemmenlassen,bistiefin denLenzhin- emDiätenzubeziehen.KeinebeträchtlicheVorlagewardeingebracht.Kaum aber waren im Wallotbräu und inderPrinz Albrecht-Straßedieerlauchten, edlen undgeehrtenHerrenwiedervereint,dabrachdieRedelustverherendaus.
DieFührerglaubten, ihre Pflichtzuversäumen,wenn sie nicht mindestens andertk)albStunden sprachen,undauchderKanzler hieltviergroßeReden.
Gehtcssoweiter,dann lesen invierzehnTagen höchstensnochmüßigeRentiers
dscParlamentsberichte.DasLebensinteressederVolksvertretungenfordert dieBeseitigungderUnsitte, daßjederRedneralle Gründe und Sentiments der
Porrednerbespricht;solcheKatzbalgereimagfichinderPresse austoben, UJderenBereichsiegehört,jetztabernicht dringt,dakeineZeitungeinenaus-
fühlklichÆdemGegnereinverständlichesWort gönnendenParlaments- bercchtbringt«AuchdieRegirenden solltennurreden,wenn sieEtwas zu sagelheinneues, wirksames Argument anzuführenhaben, sichaberhüten,
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durchleere Rednerei denLauerndenStoffzuneuem Rhetorengespinnstzu liefern.DiesmalwurdeamMinistertischundimSaalarg gesündigt.Waren eswiedernur verba etvoces? Daswirderstzu erkennensein,wenn man diestenographischenBerichtegelesenund dieoffiziösenErläuterungen,diemit- unter jaüber dieGrenze geschmuggeltwerden,in denUnterthanenverstand aufgenommen hat. Einstweilen isteingroßesGeschwätzleichterzuleistenals einauf sichtbareSymptome gestütztesUrtheilüber dasZielderdeutschen Politik. IndenpreußischenOstmarken sollen nicht mehrdiePolen chikanirt, sonderndieDeutschen wirthschaftlich gestärktwerden. Dieser Wegisthier seitJahren oft empfohlenworden;betretenabersollte ihnnur einGeduldiger, derentschlossenist, nichtandernächstenEckeschonin einen breiterenSeiten- pfad abzubiegen.MitdemaltenApparateinerVerwaltung,dieauchden stärkstenWillenlähmt,«istnichtszuerreichen;einehalbeMiuiarde unddie ganze LebensarbeiteinesschöpferischenStaatsmannes wirdnöthigsein,um auchnur den verlorenen Bodenzurückzugewinnen.Graf Bülow,dermit rühmenswerthemEifersichdenzähenStoffangeeignetund eingesehenhat, daß essichdabeium diewichtigsteFragederdeutschenZukunfthandelt,kannnicht glauben, solchesRiesenwerkseiimNebenamtzuoollbringenDerEntschlußzu innererKolonialpolitik größtenStils —undjedeandere wärenutzloseSpie- lerei—mußorganischmitderSumme desWollenszusammenhängen,dasin derGestaltungneuer MöglichkeitenundNothwendigkeiten fühlbarwerden soll. Dieser Zusammenhangaberist noch nichtzu erkennen.SolldieLegende
·vomDreibunde endlich verstummen,dieVetternintimität mitEngland sacht einemVerhältnißkühlerHöflichkeitweichen?LangtderWunschüber das Weltmeer undsuchtdaFreundschaftzu werben,wodieschlimmstealler Europa schreckendenGefahren heranreift?UndentschliefdieHoffnung,in NebelfernendesSegens Füllezufinden? Solche Fragen mußten sich Jedem aufdrängen,dergewohnt ist, ernsthafte Dinge ernst zunehmen. Der Kanzler fühlt sicherdieWuchtderVerantwortung, dieerindiesen Tagen auf sichgeladenhat.EinJahr ist verstrichen, seitersagte, noch dürfeman überihnein,,politischesundpersönlichesUrtheil« nicht fällen. Jetztkann erdieTadlerenttäuschen.Folgt jetztaberseinem WortkeinewirkendeThat, dann ist seinNimbus fürimmer dahinundermußsich,wieseinebeiden Vorgänger,mitpapiernen Kränzen begnügen, duftlos raschelndenKrän- zen, die derVerleiherohne Erbarmen vonderStirn desEntamteten reißt.
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Pädagogische Psychvlvgie- 99
PädagogischePsychologie
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Jahre1900 istinBerlin ein»Verein für Kinderpsychologie«ge- gründet worden,dessen LeitungindenHändendesProfessorsKarl Stumpfliegt.DieseGründung istalsSymptom wichtig,weilsiezum erstenMale weiterenKreisenvon einemneuen WissensgebietKundegiebt.DiePsychologiehat währendderletztenvier Jahrzehnteinüberraschend schnellemTempodieWandlungzueiner selbständigenSpezialwissenschast durchgemachtundauch schoneineReihevonUnterdisziplinenentstehenlassen, Wie diePsychophysik,die Völker-undSozialpsychologie,dieKinderpsycho- legies Diese hat sichalsbald inzwei Aeste getheilt,diesichziemlichunab- hängigvon einander entwickelnunddieman füglichalsBaby-Psychologie undpädagogischePsychologie bezeichnenkönnte. Dort giltes,menschliches eelenleben inseinen ersten PhasenundprimitivstenAeußerungenzu beob- achten5hier wiegtderpraktischeZweckvor: aus derKenntnißderKindes- PsychesollenFolgerungen für ihre BehandlunginErziehungundUnterricht gezogen werden. Seit etwa dreiJahren schon erscheintdievonKetnsiesund Hirschlnffherausgegebene,,Zeitschrift für pädagogischePsychologieundPatho- logie«(Berlin, H. Walther).
WaskanndiepädagogischePsychologieleistenundwashat sieschon geleistet?
JndenKreisenderpraktischenPädagogen— seienesnun Eltern OderLehrer— sindetman oftvölligeNichtachtungderpädagogischenTheorie, gepaart mitblindem Glauben an dieAllmachteinernatürlichen,intuitiv wirkenden Erziehungsgabeundeinerebenso natürlichen,in derPraxiser- worbenenMenschenkenntniß.Nunsoll derAntheilvonInstinktundRoutine anerfolgreicherpädagogischerThätigkeitdurchausnichtherabgemindertwerden;
eswäreja auch schlimm,wenn alle Eltern auf einen Kurs intheoretischer Erziehunglehreangewiesenwären. Undferner sei ohneWeitereszugestanden, daßdaspädagogischeGeniemanchmal ohne jede Theorie Glänzendesleistet Unddaß aufder anderen Seite derMangelan pädagogischerBegabung durchkeintheoretischesWissen ersetztwerdenkann. Aberwas imEinzelfall zurNothentbehrlichist,erweist sich doch fürdie Gesammtkulturalsunum-
gänglichnöthig.UndinsbesonderefürunsereGesammtkultur,die inihrer VielgestaltigkeitundVariabilität demMenschenundseinem Erziehungwerk
fortwährendneue Zielevor Augen stelltundneue StoffezurAneignung bietet,dieihnaberimnächstenMoment unter derWuchtderallerneusten Anforderungenzuerdrücken droht. DahilftkeineBequemlichkeit;daversagt dergenialstcInstinktunddiestärksteRoutine: wirmüssenuns, umdergroßen KulturaufgabederErziehung gerechtzuwerden, zurtheoretischenSelbst-
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besinnung durchringenund dreiFragenzubeantworten suchen. Erstens:
Welche Ziele hatdiepädagogifcheThätigkeit?Zweitens:Wie sindderen Objekte beschaffen?Drittens: Welche Wege führenandieses Ziel? Jn wieöden Formenbewegt sich oftdermoderne Streit um realistischeoder humanistischeBildung,weilman dieersteFrage einseitig, nichtaber als eineethischePrinzipienfrage behandelt!Und zuwelchenSünden in der spMethodedesUnterrichtesundderErziehung,zuwelchenverderblichenZu- muthungenandieLeistungsähigkeitdesErziehungobjekteshatesgeführt,daß man diesesObjekt,dasKind, inseiner physischenundvorAllempsychischen Beschaffenheitso wenigkannte!Daß EthikundPsychologiedie beidenGrund- wissenschastenderPädagogikseien, hatten schondieHerbartianer betont; heute müßtenwirnochdieHygieneundPathologiezuihnenrechnen.
EinesystematischeVerwerthungderPsychologiefürdiePädagogikhat das neunzehnte Jahrhundertzweimalerlebt. Herbart,derdurch mehrere SchülergenerationenbisaufdieGegenwart fortwirkte, brachte sieunszum erstenMale. SeinePsychologieist MechanikdesVorstellunglebenszdamitsind ihre Vorzüge,aberauchihreGrenzenundUnzulänglichkeitenbezeichnet.Wie sich Vorstellungenmiteinander verknüpfenundzuReihenordnen, wiesie sichdenschon vorhandenen Vorstellungbeständeneingliedernund wiesie einander wiederhervorzurufenimStande sind, schildertermitmeisterhafter Analyseundlehrt diese Vorgängeder Reproduktion,derAssoziation,der ReihenbildungundderApperzeptionbei derUnterrichtsmethodikgebührend berücksichtigen.UnterrichtistabermehralsBeibringungvonVorstellungen:
eristErweckungderintellektuellenSelbstthätigkeit;für dieseaberistindem mechanischenSystem HerbartskeinPlatz. UndErziehung ist mehrals Unterricht; sie istvorAllemWillens- undGemüthsbildung.Aberfürdie Eigenartund denfundamentalen Charaktervon Wille und Gefühl fehlt HerbartdasOrgan,daerBeidezusekundärenFolgenvon Vorstellung- prozessenherabzusetzensucht.BeiHerbarttrittdie Seele alsetwas völlig Passives auf; sie ist nichtsalsderindifferente Schauplatz, ausdemdie Vorstellungenihr Maschinengetriebeentfalten.Sieist qualitätlos:Alles, wassiean Eigenart enthält, isterworben. Damit leugnet Herbarteinen psychologischenFundamentalbegrisf,dieAnlage,und verschließtsich selbst denWegzumVerständnißderentscheidendstenpädagogischenPhänomene.
Erglaubt, daßdieerziehlicheBeeinflussungAllesvon außen geben muß, aberauchAlles gebenkann. Hinzukommennoch gewisseSchwächender Methode,dienichtsalsSelbstbeobachtungmit einemstarken spekulativen Einschlag istunddiepädagogischenSchlußfolgerungendirektausderPsycho- logiedesErwachsenen zieht. Dieser Philosophkannteweder daspsychologische Experiment nocheineKindespsychologie.EinsolchespsychologischesSystem
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PädklgvgischePlychokvgies 101 konnte trotzseiner DurchsichtigkeitaufdieDauer wederdenAnsprüchender Theoretikernoch denenderPraktikerderPädagogikgenügen.
Dieunausbleibliche Folge dieses Zustandeswar zunächsteineallseitige Rathlosigkeit.Herbart hatte doch immerhinBrückenzwischenPädagogikund Pfychologiegeschlagen;werdieseBrückennicht benutzenwollte, Derkonnte Überhauptnichtans andereUferhinüber. Unsicheres TappenundTasten, Zurückgehenaufzum Teil veralteteund überwundenePsychologien,Zusammen- stellungvon Gemeinplätzendes»gesundenMenschenverstandes«,vonempirischen RegelnderRoutine,von DogmenderorthodoxenKirchenlehreüber Seele undSeelisches:Das verstanddienichtherbartianischePädagogikimAllge- meinenunter Psychologie. Nochheute istdieser Zustand erstzumkleinsten Theilüberwunden. Esist seltsam,zusehen,wie indemGeisteslebeneines Kulturlandes zweiProvinzen,diesoeng zu einandergehören,einander nicht kennen und verstehen.Von derThatsache, daßwirseit mehralseinem Menschenaltereine durchausneue psychologischeWissenschaftmitganzneuen
Methoden,BetrachtungstandpunktenundErgebnissenhaben, nehmensehrviele Pädagogengarnicht Notiz.Beweis: dieErbärmlichkeitDessen,wasnoch heutealsPsychologiein vielenBüchernunsererLehrerseminarezufinden ist.
DieSchuldandieserZusammenhanglosigkeittragenfreilichnichtallein diePädagogenDieneue Psychologie hatte selbst zunächstnichts gethan, UmdenWegvon ihren ErkenntnissenzupädagogischenNutzanwendungen zuzeigen.Sie war ursprünglichganz und gar von rein theoretischen InteresseninAnspruchgenommen; underst,alssie dieseninweitemUmfange gfnügkhatte,erkanntesie, daß siealsangewandte Wissenschaftanderen Dis- ziplinen-derPsychiatrie,derAesthetik,derKriminalwissenschaft,vorAllemaber
dfkPädagogik,werthvolleDienstezuleistenvermochte.SoistdenndieerneuteBe- ziehungerstseitetwaeinemJahrzehnt eingeleitet;kein Wunder,daß hier weniger Von den
LeistungenalsvondenAussichten,wenigervonProblemlösungenals VonProblemstellungenderpädagogischenPsychologiezuberichtenist.
Diemoderne Seelenlehre,an deren WiegeMänner wieFechner,
HelmholtzSpencer,Wundtstanden, istimVergleichzu derHerbarts inhaltlich Vielleitigerundmethodischvollkommener. DemInhalt nach beschränktsie sich mfhtaufdasVorstellungleben,sondern läßtauchden anderenGebieten,der
Sinneswahrnehmung,derGefühls-undderWillenssphäre,vollstes Recht szommenJa, sie kehrtzumTheildieBetrachtung geradezuum, indem
ste:angeregt durch Schopenhauer, nichtimJntellekt, sondernimWillendie pktmäreFunktionderPsyche überhauptsieht. JnderMethode hat siemit
überraschendstemErfolgvon derNaturwissenschaftgelernt.Siebedientsich Ietzt als»experimentellePsychologie«inweitestemUmfangedesExperimentes undder
MessungunddrängtmitdiesenHilfsmittelnzu immercentraleren
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Gebietendes Seelenlebens vor;sie studirt,as»physiologischePsychologie«, systematischdieBeziehungenderpsychischenFunktionenzu den immergenauer bekannt werdendenkörperlichenVorgängeninGehirn,Nerven,Blutcirkulation, Ernährungu.s·w., sie hatals ,,genetischePsychologie«seelischesLeben alseinenEntwickelungprozeßauffassen gelernt,derinderEntfaltungge- gebener(zum Theil durch Vererbung überkommener)Anlagen,aberauchin einer fortwährendenAnpassungan dieäußerenEinflüssedesMilieu, der Erziehung,derUmgebungu.s.w.besteht. Diesen Zuwachsanpsychologischen Einsichtenbeginntman nun fürdiePädagogikfruchtbarzumachen. Jch deutean, inwelchemSinne undmitwelchemErfolge.
SeelischesLebenist nichtnur Passivität, sondernvorAllemAktivität;
nicht bloßesGeschehniß,sondern That, Leistung. Diese Betrachtungweise ist qualitativundquantitativ verwerthbar. Jnqualitativer Hinsicht setzt sie zunächsteinpädagogischesZiel fest: ste stelltdenVoluntarismus gegenden Jntellektualismus auf. Wenn innere WillensbethätigungdasWesendes Menschen ist, so muß ihre AusbildungderEndzweckderErziehung sein unddieUeberschätzungdesbloßenWissens muß weichen.Aberwährend dieses ZielalsZiel nichtneu ist— hat doch schonKant deutlichgenug denPrimatderpraktischenVernunftverkündet—, istderWegzuihmein spezifischesStudiengebietdermodernenPsychologiegeworden.Sie läßtuns dieEntwickelungdesWillens vom blindenTrieb durch mancherleiZwischen- stufenzumüberlegtenundÜberlegenenVernunftwillengenauverfolgen’und lehrtuns ihnverstehen, nichtalsNegationder niederenStufen, sondern alsderenHerrscher,dersieregeltundhöherenZweckendienstbar macht.Sie zeigtuns einengleichzeitigsichvollziehenden,rückläufigenProzeßderUebung undGewöhnung,dereinenursprünglichbewußtenundüberlegtenWillensakt durch häufigeWiederholungzu einerselbstverständlichenFunktion unseres Jchverwandelt,zugleichaberauch durch diese Mechanisirung frühergebun- deneKräftefürandere Ausgaben brauchbar macht.Sie weist nach,wie beideProzesseLaneinander angewiesensind,undstelltdamitdiePädagogik vor dieschwere,aber unumgänglicheAufgabeeinerWillenserziehungnach doppelterRichtung:zurSelbständigkeitundzurGewöhnung.Sieunter- sucht ferner UmfangundGrenzendesEinflusses,dendieVorstellungen auf dasWillensleben auszuübenvermögen,unddamitdiepädagogischeBedeutung vonBelehrung, Beispiel, NachahmungundSuggestion.Undendlicherforscht sie, inwieferngewisseWeisenderWillensbethätigungvonAnfangan gegeben undinwelchemMaßediese»Charakterveranlagungen«einerEinwirkungzu- gänglichsind. Diese Forschungensindallerdings noch nichtüber die An- fängehinausgelangt.
Dagegenbetreten wirmitdemfolgenden Problemdasam Besten bearbeitete Gebiet der pädagogischenPsychologie. JstSeelenleben thätige
« PädagogischePsychologie- 103 Leistung,so erhebt sichdieFrage:Wie vielkannesleisten? Diese Frage führtuns mitten hineinindiehitzigeDiskussion,diesichumdas»Ueber- bürdungthema«drehteunddreht.Nachdem dieses ThemalangeGegenstand erregterAuslassungengewesenwar, bei denenBehauptunggegenBehauptung standundEinzelfällevorschnell verallgemeinertwurden, gingman endlich zu einerruhigen UntersuchungderAngelegenheitüberundstellte sichdie Frage:Läßt sicheinMaßstab fürdieEntfaltungunddenVerbrauch physi- scherundpsychischerKräfte finden?Undwaslehrtuns einsolcherMaßstab über dieLeistungfähigkeitdesSchulkindesundderenSchwankungen,soweit sie durch Schulunterrichtund häuslicheArbeit, durchdieeinzelnenFächer, durchdieLagederPausenu.s·w.hervorgeruer werden?Der elsässische ArztundSchulmann Griesbach eröffnetedieUntersuchungen,dievon Jahr zUJahranUmfangundVielgestaltigkeitzunehmenundmitHilfedesin LaboratoriumundSchule angewandten Experimentesunsschon sehrinter- essunteEinblickeindieDynamikdeskindlichenGeisteslebens gewährthaben- Esstellte sichbaldheraus, daßeseine ganzeReihe körperlicherundseelischer Thäligkeitengebe,an derenwechselnderQualität undQuantität man mit unerwarteter GenauigkeitdenjeweiligenStand despsychischenHabitus gleichsamablesenkann. So denkeman sichetwa, daß·die Kinder einer Klasseam EndejederSchulstunde fünfMinuten lang einfachevorgedruckte Additionexempelschriftlichrechnenmüssen;dannistdieAnzahlderinjener Zeit erledigtenAufgabenunddieAnzahlderFehler Maßstab fürdiejeweilige geistigeFrischeoderErmüdung.JnähnlicherWeiseverwandte deritalienische PhysivlogeMossound nach ihm KemsiesdieLeistungeinesFingersim HebenvonGewichten, GriesbachdasUnterscheidungvermögendesTastsinnes
fsjrzweidichtneben einander stehendeSpitzen, EbbinghausdieFähigkeit- einenlückenhaftenTextsinnentsprechendzuergänzen,alsderMessungzu- gänglicheSymptome fürdasAufundAbderpsychischenEnergie.
Noch sindwirnicht berechtigt,ausdenvorliegendenErgebnissenschon definitiveund fürdiePraxis bestimmendeSchlüssezuziehen.Dasmuß
Hesvndersgegenüberjenen allzu enthusiastischenExperimentatoren nachdruck- lIch ausgesprochenwerden, diedurch ihre vorschnellenForderungenderguten Sacheeher schadenalsnützen können. UndvorAllemistjener Trugschkuß derHyperhygienikerabzuwehren, daßderNachweiseinerdurch Schuleund häuslicheArbeit erzeugtenErmüdung identischmit demNachweiseiner
Ueberbürdungsei;Ermüdung isteinnormaler Prozeß,dienothwendige Begleitcrscheinungjeder InanspruchnahmeeinesOrgans;und nichts ist PsdugogischgefährlicheralsdiezärtlicheScheuvor derErmüdung.Der WirklicheFeind istdieUebermüdung,alsoeinedurchdienormalen Mittel vonErholung,Schlaf, Nahrungaufnahmeniechtwiederrückgängigzumachende
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HerabsetzungderLeistungfähigkeit.Nurwosichdiesefeststellenläßt, ist Reform erlaubt undgeboten.
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Esbleibteinerhoffentlichnicht fernenZukunftvorbehalten, durchdie Ergebnisse solcher VersuchedieUeberbürdungfragezuklärenundbeietwa vorhandenemUebel dieWegezurBesserungzuweisen.Wirdürfenaus ihnenAufklärungendarüber erwarten, beiwelcherDauerdereinzelnenLektionen, beiwelcherAnordnungdes Lehrplanes,beiwelcher LageundDauer der Pausen,beiwelchemMaße derhäuslichenArbeiteneinnormaler psychophysischer KräfteverbrauchdieerfolgreichsteundökonomischesteVerwendung findenkann.
Doch istdamit diepädagogischeAusbeute,dievon einerPsychologieder geistigen-Leistungfähigkeitzuerhoffenist,noch lange nicht erschöpft.Man denkeetwa an- jene KulturproduktedespraktischenLebens, diejadie geistige Leistungfähigkeitaus irgendeinemGebietenachweisen sollen:die Examina. Wagt sich ersteinmal dieSeelenkundeandiewissenschaftliche AnalyseundBeurtheilung dieses Phänomens— daseinöffentlicherNoth- standzu werdenbeginnt—, so mußsiesich aufeineHerkulesarbeit gefaßt machen.DiePsychologieund dieEthikderExaminawerdensicherwichtige ProblemedeszwanzigstenJahrhundertswerden.
UnterdenanderenGebietendermodernen psychologischenArbeit hat lange Zeit-dasGebietderSinneswahrnehmungeinefast despotischeVor- machtstellungbehauptet,daeszurphysiologischenundexperimentellenEr- forschungdie breiteste undbequemsteGelegenheitbot. Dies scheint sichin neuerer Zeit erfreulicherWeisezuGunstenderanderen Gebietezuändern;
inzwischenaberhat jene fieberhaft intensive BeschäftigungmitdenSinnes- empfindungeneineFüllevonWissenzuTage gefördert,dasnun auch päda- gogifch verwerthbarwird. FürdiralteForderung,dieAnschauungzur GrundlagedesUnterrichteszumachen,undfürdieneuere Tendenz,den
.ästhetischenSinn derKinder zu wecken und zu üben,findjetztdieHand- habenzuexakterundErfolg verheißenderDurchführunggegeben;dennwir sindüberdas-Entstehen,dieZusammensetzungund dieAusbildung,über die GemüthswirkungderFarben-, Licht-undRaumauffassung,derTon-, Har- monie- nndRhythmuswahtnehmungganzandersunterrichtetalsfrüher.
Jn demReichderVorstellungenist seit Herbartemsiggearbeitetworden.
WarderMechanismusderVorstellungassoziationfrühernur inseinemall- gemeinenWesenbekannt, sohatdasExperiment seitdem gezeigt,wieerim Einzelnenfunktionirtund wieseinTriebwerk speziellin derKindesseele arbeitet. Pädagogischwichtig istbesondersdieFunktiondesGedächtnisses.
Hierhabenuns diebekannten VersuchevonEbbinghausüber diequanti- tativen VerhältnissedesmechanischenLernens und überdenEinprägung- werthvonWiederholungenwichtigeAusschlüsfegegeben. In Bezug aufTreue undZuverlässigkeitdesGedächtnisseshabe ich Experimente angestellt,diedas
PädagogischePsychologie. 105 UUerwartete Resultatergaben,daßgebildete erwachsene Personenbeider schriftlichenSchilderungeines einmal gesehenenBildes nachzweibisdrei Wochendurchschnittlichzehn Prozent Fehler machen; entsprechendeVersuche bei Kindernwürdenlehrenkönnen, obnichteineErziehungzur Redlichkeit desGedächtnissesmöglichundnothwendig ist-
EinProblem,dasdie älterePsychologieso gutwiegarnichtgekannt hat, istdasderErforschungderindividuellen Differenzen.Die ungeheure MannichsaltigkeitindividuellerEigenartenwarzunächstvoneinernur generali- sirendenSeelenkundein denHintergrundgedrängtworden, damit dasallgemeine SchemadesmenschlichenSeelenlebens reindargestelltwerden konnte.Neuerdings aberfahman ein,daß auchin denbesonderenAusprägungen,diedie Seelein verschiedenenIndividuen zeigt, RegelundGesetzherrschen,diewissenschaftlich erfaßbarsind,und daß hier Aufgaben entstehen,dietheoretischeLösung heischew Schondieso wichtigeFrage, woinnerhalbdespsychischenLebens · dieGrenzezwischendem Normalen unddem Abnormen liege, ist nichtallein von derPsychopathologieundPsychiatrie herzubeantworten; diePsy- cholvgiemuß selbst feststellen,welcheVerschiedenheitenimFunktionirenetwa des Jntellektes oder des Willens nochindienormale Breite fallen. Sie kann dann ferner innerhalb dieserBreitegewisseTypendesFunktionirens konstatiremdieviersogenannten Temperamentesindsolche Typen,dieaber erst NocheinerNachprüfungharren.Einneueres Beispielsinddievonfran- zösischenPsychologen(Eharcot,Binet undAnderen)gefundenenTypendes Vorstellunglebens,dieman alsvisuell,auditiv und motorischbezeichnet.
DieseWortewollen ausdrücken,welchesSinnesgebietzumAufbauder Vor-«
stellungweltüberwiegendVerwerthung findet.Die»Visuellen«phantasiren Undträumen indenlebhaftestenoptischenBildern; siebehalten besonders leichtFarben, Formen, Gesichter, dagegen schlechtSchälle,Töne,Sprach- timbres. Siereproduziren Sprachliches vorwiegendmitHilfe
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derSchrift- bilder, siebauensichüberhauptihre VorstellungweltzumgroßenTheilaus optischenElementen auf. Die »Auditiven«verhalten sich geradeumge- kek)rt.Undnun vergleicheman mitdieserindividuellenDifferenzirungdie TendenzderPädagogik,eineeinzige MethodedesEinprägensundLernens fürdie alleinselig machende,bei allenKindern ingleichemMaßeanwend- bare zuerachten!Der eineKnabe behält seinen Grammatikparagraphen dadurch,daßerihn rechtsobenaufderBuchseiteinDruckschriftgeistigvor sichsieht,derandere, indemerdenKlangder Worteinnerlich hört.Darf man da BeidenachdemselbenSchemaFlernen lassen? Zuderpraktischen Forderung,daß derErzieher individualisire, gehörtalsTheorieeinePsy- chologieder individuellen Differenzen. .
MLineZusammenstellunggiebtnur eine kleineAusleseausderFülle
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derBeziehungen,diezwischenPädagogikundPsychologieschon bestehenoder jn naher Zukunftwerden hergestelltwerdenmüssen.Dabei wurden weder dieso wichtigenFunktionen derAufmerksamkeit,des DenkensundUrtheilens, derSprache,desAffekt-undGemüthslebensu.s·w. berücksichtigtnoch einer Förderunggedacht,diederKenntnißundBehandlung psychischnicht normaler Kinder (oerBlinden, Tauben, Geistesschwachen,geistig Zurück- gebliebenenu.s. w.)ausdermodernenSeelenkunde zuerwachsenvermögen.
WieallemNeuengegenüber,so schwankt auchinderAuffassungder pädagogischenPsychologie StimmungundVerhalten heute noch zwischen zwei Extremen. fAufdereinenSeite herrscht,wie ich schon erwähnte, JgnoranzoderMißachtungihres Werthes, aufder anderen ofteineetwas fanatifche Ueberschätzung,dieinihrdenHeroldeinerpädagogischenUm- wälzungbegrüßt.BeideUebertreibungenwerdensicherbald einerbesonnenen WürdigungPlatz machen;undwenn dannersteinmal dieorganischeVer- bindungderzwei DisziplineninweiteremUmfange durchgeführtfein wird, so dürfenwirdaraus Früchteerhoffen, nichtsnur für manche Frageder pädagogischenReform, sondern auch fürdieBethätigungallderTausende undAbertausende,dieNatur oderBerufmitdem AmtderErziehungund desUnterrichtesbetraut hat. Dann aberwirdauchderPädagogedenPsy- chologenVieles lehrenkönnen. Verfügt jaderLehrer,derErzieher,die Mutter über eingerader überwältigendreichesMaterial psychischerGescheh- nisfe,dasjetztzumgrößten Theil ungenutztverloren geht.Hierkannpsy- chologischesInteresseundpsychologischeSchulunginZukunft reiche Schätze heben; freilichnur, wenn strengstewissenschaftlicheSelbstzuchtdauernd mit- wirkt. Denn dempädagogischenPsychologendrohenzwei Klippen:die Ver- flachungderPsychologiezufeuilletonistischemSpielenmitdemGegenstand undamusanter Anekdotensammlungzund dienaturalistische Ueberschätzung vonExperimentundMessung,dienichtnur zuödemZahlenkultus, sinnloser MaterialanhäufungundBlindheit gegenüberhöheren,jenen Methoden nicht zugänglichenGeistesfunktionen,sondernimschlimmstenFallsogarzuder von demPsychologen MünsterberggefürchtetenGefährdungdesethischen Erziehungzweckesführenkann,wenn dasKinddemErziehernun nicht mehr alsmoralische Persönlichkeit,sondernnur nochalsinteressantes Naturobjekt erscheint. Weißer beideKlippenzu meiden,dann können mitunter wohl UnterrichtsstundenalspsychologischeExperimenteimGroßen,derAufsatz alsJudex geistiger Beschaffenheit,dieFehlerindenRechenaufgabenund Diktaten alsBeiträgezurPsychologiedesJrrthumes,dann können Kinder- stubeundSchulzimmeralspsychologischeObservatorien Verwendung finden.
Breslau. Dr. L.William Stern.
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