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Einer der autobiographischen Texte ist das Fragment Von Hassan, Saigon und der grünen Kugel, in dem die Dichterin Ereignisse aus ihrer Kindheit beschreibt: die Spaziergänge im Park um das Admiral-Tegetthoff-Denkmal, das Muschelsuchen am Strand und die magischen Vorführungen des Vaters, dessen Phantasie die Autorin bewunderte. Es sind ihre frühesten Erinnerungen, deshalb plante sie auch diese Skizze an den Anfang des Romans zu stellen. Die istrische Stadt Pola wird hier als die Heimat der Dichterin dargestellt. Mit ihr verbindet sie ein starkes Gefühl der Geborgenheit, das für die Kindheitserinnerungen prägend ist.819

In der Erzählung fi ndet der Leser zahlreiche Motive, von denen in den vorausgehen-den Kapiteln bereits die Rede war, und die deshalb zwar erwähnt, aber nicht mehr detailliert besprochen werden sollen. Der Text führt den Leser zu den Ursprüngen des Meeresmotivs in Paula von Preradović’ Dichtung und beginnt mit dem Blick auf

818 Paula von PRERADOVIĆ: Ewiges Land, a.a.O., S. 902.

819 Zorka Orlandić vertritt die Meinung, dass sich in Paula von Preradović’ Kindheitserinnerungen eine geistige Verwandtschaft mit dem österreichischen Dramatiker und Lyriker Anton Wildgans (1881–1932) ab-zeichnet. Als Beispiel nennt sie sein Werk Musik der Kindheit. Ein Heimatbuch aus Wien (1928) (vgl. Zorka ORLANDIĆ, a.a.O., S. 225).

das Meer. Das etwa dreieinhalb Jahre alte Mädchen läuft mit seinem Vater, begleitet von Hassan, einem Trabakelhund, zur Küste:

Februar war es, steigendes Jahr, Frühling über knospendem Südland, strahlende, hoff-nungreiche, anfangende Zeit. / Indes wir atemlos dahinrannten, sahen wir das Meer. Es lag als ein stahlblauer, etwas angerauhter Spiegel vor uns, denn eine lebhafte Brise kräuselte es und wehte uns entgegen. Wir liefen eine karstig graue, steinige Wiese hinab, die ein abschüssiges, fl aches Tälchen zwischen zwei Küstenhügeln bildete und bei einer breiten gerölligen Bucht endete. In großer Eile fl ogen wir dahin, Papa hielt mich fest an der Hand […]. Neben uns aber sprang und galoppierte in tollen Sätzen er, um dessentwillen dies ganze Rennen veranstaltet wurde, Hassan, der schwarze Dackel […].820

Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um eine der ersten Erinnerungen der Dichterin handelt. Zorka Orlandić äußerte sich über die Art und Weise, wie das Meer im Text dargestellt wird, sowie über die Rolle dieses frühen Eindrucks folgendermaßen:

[…] Von nun an sollte der Anblick des Meeres unauslöschlich eingegraben sein und in unzähligen Varianten, überlagert von späteren Eindrücken, zum dichterischen Ausdruck drängen. Einer Kamera gleich, die aus der Totalen der Küstenlandschaft an Hügeln und karstigen Wiesen vorbei zur Einstellung auf das Meer einschwenkt, öffnet und die dichte-rische Prosa den Blick in die blaue Weite und gibt das Meermotiv frei […].821

Die Rolle des Meeresmotivs beschränkt sich hier ausschließlich darauf, der Erzählung eine besondere Stimmung zu verleihen und dem Leser eine Vorstellung von der wichtigsten landschaftlichen Dominante des mediterranen Raumes zu geben. Da das Motiv keine weiteren Funktionen erfüllt, könnte man meinen, dass es sich nur um eine Erinnerung unter vielen handelt. Man erkennt jedoch, dass es unter allen anderen Motiven eine vorherrschende Stellung einnimmt. Es handelt sich um einen besonders starken Eindruck, der die Erinnerungswelt der Dichterin nachhaltig prägte.

Um die Meeresszenerie zu beschreiben, wird der Ablauf der Handlung angehalten, wodurch einerseits ein retardierendes Moment geschaffen, andererseits jedoch der Rang der Impression und des Meeresmotivs unterstrichen wird. Eine ähnliche retardierende Wirkung erzielt die Erzählerin in folgendem Textabschnitt, in dem das Meeresmotiv mit anderen Motiven bzw. Bestandteilen der Meereslandschaft, wie z.B. dem Himmel, der Brandung, den Schiffen und der mediterranen Pfl anzenwelt, verknüpft dargestellt wird:

[…] als eine blaue Riesenhalbkugel wölbte sich der Himmel über uns, das Meer rauschte in melodischen Stößen zu unseren Füßen, und bis weit hinaus glitzerte die Sonne auf seinen Wellen. Schiffe zogen in der Ferne vorbei, große, graue mit rauchenden Schloten, und

820 Paula von PRERADOVIĆ: Von Hassan, Saigon und der grünen Kugel, in: Gesammelte Werke. Herausge-geben, eingeleitet sowie mit Vor- und Nachwort versehen von Kurt Eigl, Wien 1967, S. 911.

821 Zorka ORLANDIĆ, a.a.O., S. 132.

Segler […]. Die Hügel, die von all den graugrünen, stachligen Kräutern und Sträuchern, mit denen sie bewachsen waren, einen bitterwürzigen, scharfen Geruch ausströmten, bogen sich ins Meer hinaus, um sich weiter drüben, jenseits unserer Sicht, wieder zurückzubie-gen und mit neuen Hügeln neue Buchten zu bilden […]. Auf den Landzunzurückzubie-gen standen Forts […] mitten in Thymian und Wacholder, Krokus und Veilchen, am Meeresstrand spritzte bei Südwest die große Brandung auf, und die Buchten lagen still und verborgen da […]822 Zu den am leichtesten erkennbaren istrischen Motiven gehört der „»Große Berg«, den man überall erblickte, wohin man auch gehen, welchen Hügel man auch ersteigen mochte“.823 Der »aufmerksame Wächter«, von dem bereits während der Analyse des Fragments Ewiges Land. Ein Vorgesang die Rede war, und dessen Symbolik uneindeutig ist, erhält hier den Namen »Monte Maggiore«.824 Auch ein anderes, in Preradović’

Werken weit verbreitetes Motiv ist in dem Text von Bedeutung – die Erzählerin erwähnt einen Hirten „in sonderbaren langen, weißen Wollhosen und einer braunen Jacke“825, der „mit gebogenem Stab schwarze und weiße Schafe zur Tränke“826 treibt.

Besondere Aufmerksamkeit widmet die Erzählerin der Problematik der Heimatsehn-sucht, die in dem gesamten Schaffen der österreichischen Dichterin eine wichtige Rolle spielt. Die Überlegungen der Erzählerin konzentrieren sich um das Motiv des Affen Saigon, der in einem Käfi g neben dem Kohlendepot hinter der Arsenalmauer gehalten wurde.827 Saigon zu besuchen war für die Kinder immer ein aufregendes Unternehmen, doch oft saß der Affe verdrossen da. Die Erzählerin erinnert sich, dass sie eines Tages ihren Vater enttäuscht fragte, weshalb Saigon so böse sei. Das Gespräch, welches sich aus der Frage ergab, führt den Leser zu den Wurzeln der Heimwehproblematik, was aus folgender Passage ersichtlich ist:

[…] Papa antwortete mir aus seinem Gespräch mit Mama heraus: »Er wird halt Heimweh haben, der arme Schlucker.« Mama aber sagte: »Wahrscheinlich ist ihm kalt«, und zu Papa: »Sie weiß doch nicht, was Heimweh ist.« / Ich wußte es wirklich nicht, aber ich bin es gelehrt worden. / Der große Kohlenberg, die jungen Eltern […], ich selbst, klein, ganz klein, im Kinderkleidchen mit winzigen Schuhen um den großen, runden Käfi g trippelnd, und im Käfi g der mürrische, heimwehkranke Affe: dies ist eines der frühesten Bilder, die mein Herz bewahrt hat. Und so mag denn Saigon, den man aus seiner Heimat fortgeführt hatte, […] als eine groteske Initiale dies Buch vom Heimweh eröffnete [sic!], diese Geschichte einer kleinen Kindheit an der Schwelle der Weltenwende.828

822 Paula von PRERADOVIĆ: Von Hassan, Saigon und der grünen Kugel, a.a.O., S. 914.

823 Ebd., S. 916.

824 »Monte Maggiore« (kroat. Učka) ist in Wirklichkeit der Name eines Gebirgsmassivs, das zu den kroatischen Dinariden gehört und an der östlichen Seite der Halbinsel Istrien liegt. Der höchste Gipfel ist der 1396 m hohe Vojak. Um diesen Berg mag es sich in den beiden Texten handeln. (vgl. »Učka«, in: Slaven RAVLIĆ (Hrsg.), a.a.O., Band 11, S. 142).

825 Paula VON PRERADOVIĆ: Von Hassan, Saigon und der grünen Kugel, a.a.O., S. 916.

826 Ebd.

827 Vgl. ebd., S. 917.

828 Ebd., S. 919.

Im Heimatgefühl der Erzählerin vermengt sich die Erinnerung an die istrische Landschaft mit der elterlichen Liebe, in der die Geschwister lebten.829 Der Text bestätigt also die Annahme, dass die mediterrane Landschaft nur einen Teil ihrer Vorstellung von Heimat ausmacht. Den anderen, wahrscheinlich noch viel wichtigeren, bilden Wärme, Schutz und Geborgenheit, die die Erzählerin in ihrer Kindheit von ihren Eltern erfuhr.

Neu sind hingegen zwei Motive, von denen nun die Rede sein soll. Hinter den ersten beiden – dem Dackel Hassan und der grünen Kugel – verbirgt sich die reiche Fan-tasie, Kreativität und väterliche Liebe Dušan Preradović’ zu seiner kleinen Tochter.

In der folgenden Passage beschreibt die Erzählerin, womit sie noch als Erwachsene den Namen des Trabakelhundes assoziierte: „[…] Heute erscheint er mir fast wie eine Verkörperung von Papas zaubermächtiger Einbildungskraft, die sich wie ein vielfarbiger Regenbogen über meine Kindheit wölbte, und mit der Fanfare seines Namens verbindet sich mir für immer das Gefühl dahinsausenden Laufes durch scharf riechendes Buschwerk angesichts des vorfrühlinghaft erblauenden Meeres“.830 Über die grüne Kugel, die Dušan benutzt, um der kleinen Paula seine Zauberkünste vorzuführen, schreibt die Erzählerin Folgendes:

[…] Papas zärtliche Liebe zu mir hatte in ihr sichtbare Gestalt angenommen, das Gute, das er mir gönnte, ließ er mir scheinbar durch sie zukommen. Sie war zugleich Liebesbotin und Symbol von Abenteuer und Traum […]. Sie war ein holdes Geheimnis zwischen Papa und mir, weder Mama noch die Brüderchen hatten daran Teil. […] / O gesegnete Phantasie meines Vaters, die immer wieder Neues erfand, liebend ausheckte, zutage förderte und mit kindlicher Freude fortspann!831

Von Hassan, Saigon und der grünen Kugel ist zudem einer der wenigen Texte der Dichterin, in denen sie Dušan Preradović beschreibt. Die Erzählerin erinnert sich genau daran, wie sie als kleines Mädchen ihren Vater wahrnahm. Sie betrachtet ihn jedoch nicht mit kindlichen Augen, sondern aus der Perspektive einer erwachsenen Frau, die Bilder ihres Vaters in verschiedenen Abschnitten seines Lebens in Erinnerung ruft und miteinander vergleicht. Sie erkennt sogar Ähnlichkeiten zwischen ihm und seiner tragisch verstorbenen dalmatinischen Mutter. In seinem melancholischen Gesicht scheint sie auch die Züge ihres berühmten kroatischen Großvaters Petar zu sehen. In folgender Passage charakterisiert sie den kaiserlichen Seeoffi zier:

[…] Er kam mir riesig vor, aber in Wahrheit kaum mittelgroß und zierlich und stand damals in der Blüte seines Mannesalters. Er glich Pave, seiner schönen dalmatinischen Mutter, die so früh und traurig gestorben war, er hatte ihre dunklen samtenen Augen und ein schmales, sehr edles Gesicht. Das tiefe Grübchen im Kinn, das sein schwarzer Spitzbart verdeckte, war allerdings ein Erbteil seines Vaters […]. Papa sah damals ungefähr so aus wie einer der jungen Kavaliere aus El Grecos Gemälde »Begräbnis des Grafen Orgaz«. Als er älter

829 Vgl. ebd., S. 923.

830 Ebd., S. 917.

831 Ebd., S. 925.

wurde, kränklich und traurig, sah er dann aus wie die graubärtigen, ernst blickenden Herren auf jenem Bilde; er glich sein Leben lang dem Typus von schmalgesichtigen, edel-schwermütigen Spaniern, die der geheimnisvolle Maler unsterblich gemacht hat.832 Von Hassan, Saigon und der grünen Kugel ist eines von zwei autobiographischen Fragmenten, in denen die Kindheitserinnerungen der Dichterin am deutlichsten zum Ausdruck kommen.